Der Weg ist das Ziel. Treffender als für den Jakobsweg kann dieses bekannte Sprichwort ja nicht sein… Niemand wünscht dir auf dem Weg: Komm gut in Santiago de Compostela an!
Buen camino! Einen guten Weg! lautet der Gruss auf und neben dem Weg.
Dieses Der Weg ist das Ziel spüren wir am letzten Tag unserer Pilgerung besonders stark. Die Wegweiser am Wegrand zeigen immer weniger Kilometer an… Noch 15 Kilometer bis Santiago… Noch 10 Kilometer… Noch 2 Kilometer… Es ist eine verrücke Mischung aus Wir haben es bald geschafft! und Es ist bald zu Ende! Eine Mischung aus einer Art Vorfreude und Aufregung, wie als man sich als Kind auf den Geburtstag gefreut hat und einer leisen Wehmut. Wir ertappen uns dabei, wie wir etwas mehr Pausen einlegen, etwas stiller sind… Und kann es sein, dass wir vielleicht sogar etwas langsamer laufen?
Eine Träne rollt unerwartet meine Wange herunter. Sie scheint mich zu fragen: Hast du den letzten Kilometer gelebt? So richtig? Vom Aufsetzen der Ferse auf dem Boden bis zum Abrollen über den Fussballen und die Zehenspitze zum erneuten Heben…? Vom Geruch, nach feuchter Erde im Wald und den unzähligen Grüntönen der Bäume, dem Gezwitscher der Vögel, dem Geräusch der eigenen Schritte auf den Kieselsteinen, den warmen Sonnenstrahlen im Gesicht, dem Gewicht des Rucksacks, das durch die Träger in die Schultern schneidet, bis zum Erspähen der gelben Jakobsmuschel, die den Weg anzeigt?
Wegweiser auf der letzten Strecke des Camino Portugués von Padrón nach Santiago de Compostela
Wir machen den Jakobsweg in Nordwestspanien. Wunderbar. Körperliche Anstrengung, abschalten, frische Luft, schöne Landschaften, gutes Essen… In jedem Restaurant, in jeder Bar, in jedem Café, wo wir eine Pause einlegen, läuft mindestens ein Fernseher. In den Nachrichten an den ersten Tagen: Um die 100 Coronavirus-Fälle in Spanien… mit jedem Frühstück, jedem Mittagessen, jedem Abendessen werden es mehr und mehr und mehr… An unserem Abreisetag sind es schon über 1000.
Nur Wenige machen zu dieser Jahreszeit den Jakobsweg. Wir laufen meist alleine und in den Herbergen, Pensionen und Hotels, wo wir übernachten, sind wir oft die einzigen Gäste. Die Betreiber sind besorgt. Wenn es so weiter geht, wird es eine schlechte Saison. Unterwegs begegnen wir einigen Deutschen, einem Franzosen, drei Süditalienern, einem Chilenen… ES ist immer Thema. Aber alle belächeln es – wir auch. Wir fühlen uns wie Verbündete, Eingeschworene, die über dieser ganzen Hysterie stehen. Man mache ein riesen Theater daraus. Die Symptome seien wie bei einer Grippe. Darf ich von deinem Wasser haben? Ja klar, auf eigene Gefahr… Achtung Coronavirus… Hahaha…. Ich merke, dass ich mir etwas häufiger als sonst die Hände wasche.
Als wir im Pilgerbüro in Santiago de Compostela unseren Pilgerausweis beantragen, ist ein grosser Abstand zu den Angestellten markiert. Ich mache ein erstauntes Gesicht. „Das ist zu Ihrem und unserem Schutz!“, meint die Angestellte mit Plastikhandschuhen. Im Flugzeug auf dem Rückflug zucken wir bei jedem Niesen oder Husten, das wir in der Nähe hören zusammen und schauen uns um. In der Schweiz angekommen, sitzt im Bus vom Flughafen nach Hause eine Gruppe Norditaliener, die von einem Urlaub zurückkommt. Wir hören, dass sie zum Bahnhof wollen. Sie befürchten, bei der Grenzkontrolle Probleme zu bekommen oder gar in Quarantäne gesteckt zu werden. Wir ertappen uns dabei, wie wir von ihnen Abstand nehmen.
10. März 2020 Nachmittag und Abend
Ich telefoniere mit meinen Eltern. Wir sind zurück, alles ist bestens gelaufen, es war schön, wir sind gesund Mamma, … ja auch nicht erkältet, Mamma… Bevor ich das Telefon auflege, meint meine Mutter noch: „Gut, dass ihr nicht da wart in den letzten Tagen und abschalten konntet! Informiert euch jetzt aber lest auch nicht zu viel…“
Und dann beginne ich – und ich kann nicht mehr aufhören. Berichte, Experten, unterschiedliche Medien, aus verschiedenen Ländern, Symptome, Krankheitsverläufe, Fotos aus Italien, aus China, Wuhan, exponentielles Wachstum, Grafiken, Zahlen, keine Behandlung, Selbst-Isolation, Was muss man beachten?, Impfstoff?, Mails von der Arbeit über Massnahmen, kein Händeschütteln, Wie sollen die Tische desinfiziert werden?, Erklärvideos, Schutzmasken – ja, Schutzmasken – nein, Corona-Fälle an der Fachhochschule, eine ganze Klasse in Quarantäne, positive Tests, negative Tests, COVID-19, wie wird das Virus übertragen, künstliche Beatmung, Pandemie, Überlastung des Gesundheitssystems, Risikogruppen…
Risikogruppen. Meine Eltern. Dürfen wir sie nicht mehr besuchen? Nicht mehr umarmen? Sollten sie nicht mehr aus dem Haus? Wie soll das gehen? Ich bin fix und fertig und verstehe nun den Satz meiner Mutter.
Ich bin konfessionslos. Meine Eltern wollten, dass ich wenn ich später dazu im Stande sein würde entscheiden könne, ob und welche Religion ich haben möchte. Und nun bin ich dreissig und immer noch konfessionslos. Ich habe mich für keine Religion entschieden. Und doch würde ich eigentlich von mir behaupten, dass ich religiös bin. Ich glaube an das Göttliche, an Gott… Ich bete für mich und meine Lieben und ich gebe es zu, zwischendurch auch mal für eine Prüfung die ich bestehen sollte. Ich bedanke mich für das Leben, die Gesundheit und so manch anderes Geschenk bei Gott. Gott nenne ich „ihn“, weil mir meine Grossmutter in Süditalien das so beigebracht hat, wenn sie manchmal heimlich mit mir betete als ich klein war. Ich mag es in Kirchen Kerzen anzuzünden, mich hinzusetzen und in mich zu gehen. Doch hat Religion für mich gleichzeitig auch immer wieder etwas Unheimliches an sich, etwas das mich skeptisch macht. Ich verbinde damit Schreckliches wie Krieg, Leid, Fanatismus und Falschheit. Gewisse Dinge wie bestimmte Rituale und Bräuche finde ich höchst befremdend. Nicht selten denke ich mir: „Die haben doch einen Knall!“ Es ist ein Hin und Her zwischen einem Gefühl der Zugehörigkeit und gleichzeitig der Fremdheit.
Zugehörigkeits- und Fremdheitsgefühle sind es auch, die mich auf meiner Pilgerung nach Luján begleiten. Ich bin mitten drin, ein Teil des Pilgerstroms der aus tausenden von Menschen besteht. Gleichzeitig komme ich mir manchmal wie eine Drohne vor, die das ganze Geschehen überfliegt, ein Zuschauer, ein Beobachter… Zwischendurch schaue ich mich um und frage mich, ob man mir nicht anmerkt, dass ich konfessionslos bin. Oder dass ich nicht aus Argentinien komme… Bin ich vielleicht die einzige Ausländerin unter den mehreren Tausend Menschen? Der Gedanke fasziniert mich.
Diese mehreren Tausend, sind tatsächlich mehrere Tausend. Im Jahr 2013, Papst Francisco sei Dank, waren es sogar 2,5 Millionen Pilger. Ja, 2,5 Millionen. Etwas mehr als ein Drittel der Bevölkerung der Schweiz, um es anders auszudrücken. Wie jedes Jahr seit 1975, findet die Pilgerung an einem Samstag anfangs Oktober statt. Wir starten morgens um 10 Uhr wie die meisten anderen Pilger auch in Liniers, einem Viertel der Hauptstadt Buenos Aires. Von dem Moment an, an dem wir eintauchen in die Menschenmenge und zu laufen beginnen, sind wir ein Teil von diesem Strom der fliesst, unaufhaltsam wie ein Fluss, ständig in Bewegung… in Richtung Luján. In der etwa 60 Kilometer von Buenos Aires entfernten Stadt, befindet sich die der Schutzpatronin Argentiniens gewidmete Basilica de Nuestra Señora de Luján – das Ziel der Pilger.
Junge, Alte, Menschen in Rollstühlen, allein, in Gruppen, still, schwatzend, singend, schnell, langsam, in Markenturnschuhen, in Flipflops, barfuss, mit Stöcken oder ohne, betend, scherzend, in sich gekehrt… Alles läuft und lebt, auf und neben dem Weg. Immer wieder mal trällert laute Musik aus mehr oder weniger guten Musikboxen, die auf Wägen von einigen Gruppen gezogen werden. Einmal ist es Cumbia, dann sind es religiöse Lieder. Teils bekommt man Lust mitzusingen und zu tanzen, teils sich die Ohren zu zuhalten. Einige der Kirchengruppen animieren die Pilger mit Megaphonen, machen Witze, feuern an, beten oder singen Lieder. Nicht wenige der Lieder kennt man aus dem Fussballstadion, nur die Texte wurden etwas abgeändert.
Am Wegrand wird alles nur erdenkliche angeboten. Zwei Rosenkränze zum Preis von einem, Pflaster, Schuhe und Schuheinlagen, der Stock des Papstes für nur 12 Pesos, Fahnen von Fussballclubs und der Jungfrau Maria… Bananen, die reich an Kalium sind werden angepriesen. Damit komme man schneller in Luján an, wird geworben. Alle möglichen Getränke, Gebäcke, Früchte, Chips locken links und rechts. Die Anwohner stellen einen Tisch vor die Haustür und verkaufen hausgemachte Schnitzelsandwichs, Fruchtsalate und Kuchen. Jeder der eine Toilette hat, stellt sie natürlich gegen Bezahlung, den Pilgern zur Verfügung. Und das Geschäft läuft – denn Toiletten sind heissbegehrt, vor allem bei den Frauen, die scharenweise Schlange stehen.
Gegen Mittag wird man von Rauchwolken und Düften vom Grill und Tortillas umhüllt, so dass das Wasser einem im Mund nur so zusammen läuft. Nachdem man bereits mehrere Stunden gelaufen ist, möchte man eigentlich am liebsten einfach irgendwo anhalten, sich hinsetzen und ein saftiges Steak bestellen. Einige tun dies auch, andere essen riesige Hamburger auf dem Weg – doch wir wissen, dass wir nicht mehr weiter laufen würden nach so einem Ding und geben uns Mühe durchzuhalten. Das Schinkensandwich das wir schliesslich am Mittag bei unserem ersten Halt von den freiwilligen Helfern unserer Pfarrei bekommen, erscheint uns das grösste und beste der Welt.
Die meisten Leute und so auch wir, gehen mit einer Gruppe aus einer Pfarrei auf die Pilgerung. In den drei offiziellen Pausen in den Ortschaften Merlo, La Reja und Gral Rodríguez richten diese Verpflegungsstationen ein. Dort kann man sich setzen und ausruhen. Die Freiwilligen bringen den Pilgern zu essen und zu trinken, verarzten schmerzende Füsse, massieren die Beine und bauen die Moral auf: „Komm, du schaffst es! Weiter so! Es ist fast geschafft!“. Wenn du es in einem guten Zustand bis nach Gral Rodríguez schaffst, schaffst du es auch nach Luján, heisst es. Wenn man in Gral Rodríguez ankommt ist es bereits Nacht und man ist bereits etwa 10 Stunden gelaufen und „Es ist fast geschafft“ heisst konkret: Es fehlen „nur“ noch ca. vier Stunden bis zur Basilika. Fast 60km sind es bis zum Ziel und wir laufen sie in etwa 14 Stunden. Die Pausen sollten möglichst nicht länger als 30 Minuten dauern, sonst wird es sehr schwierig weiter zu gehen.
Die Beine werden schwer wie Blei und die Füsse schmerzen, doch wir laufen weiter und tausend andere mit uns. Auch als die Sonne beginnt unterzugehen und die Nacht einbricht. Auf dem Weg reichen einem die Helfer der verschiedenen Pfarreien gegen den Abend Matetee und heissen Bouillon, den wir ohne anzuhalten dankbar annehmen, denn jedes Anhalten lässt die Beine noch schwerer erscheinen. Auch Taufen und Segnungen werden angeboten. Überall am Wegrand dehnen Leute oder machen eine Pause. Je später es wird und je näher man an das Ziel herankommt, desto mehr schmerzverzerrte Gesichter sieht man. Einige ziehen die Schuhe aus, weil sie sie nicht mehr aushalten, andere hinken oder werden sogar links und rechts gestützt, um weiterlaufen zu können. Doch man läuft weiter… oder viele zumindest.
Mit der Dunkelheit, wird der Pilgerstrom ruhiger. Die Müdigkeit dämpft die Stimmung etwas. Es gibt einen Stromausfall und wir laufen eine Weile im Stockfinsteren weiter. Je näher man ans Ziel kommt, desto mehr lebt die Menschenmasse allmählich wieder auf. Es scheint so, als bekämen die meisten Leute einen Energieschub, wenn sie in die Stadt Luján hineinkommen. Die Gebete und das Geschrei per Megaphon nehmen zu. Bei einigen der „Animateure“ fragen wir uns, ob sie irgendwelche Drogen konsumieren. Je näher man der Basilika kommt, desto enger werden die Strassen und Gassen durch die sich die Menschenmasse drängt und das Tempo verlangsamt sich gezwungenermassen.
Um punkt Mitternacht erreichen wir schliesslich die Basilica de Nuestra Señora de Luján. Viele Pilger brechen in Tränen aus wenn sie ankommen. Auch ich bin sehr berührt. Erschöpft nach der enormen physischen und psychischen Anstrengung überkommen einen unweigerlich eine Welle von unterschiedlichen Gefühlen und Gedanken. Es ist wundervoll es geschafft zu haben. In der Kirche wird gebetet, gebeichtet, fotografiert. Viele legen sich irgendwo auf den Boden hin und schlafen, um am nächsten Tag der Messe beiwohnen zu können. Wir werden vom Pfarrer, der zwischen der einen und der anderen Segnung der Menschenmasse zuruft, sie solle doch bitte zirkulieren, mit Weihwasser bespritzt.
Nach dem emotionalen Moment in der Basilika, nimmt jedoch ein Gedanke überhand: Bett, Bett, Bett… Die letzten Meter bis zum Bus, der uns nach Hause fährt kommen uns wie Kilometer vor. Doch wir sagen tapfer „Nein“, als unsere treuen Helfer anbieten, uns mit dem Rollstuhl zum Bus zu bringen. Ein bittersüsser Gedanke untermalt den ganzen Tag meine Zugehörigkeits- und Fremdheitsgefühle und begleitet mich während der ganzen Pilgerung: Wie gross wäre die Menschheit, wenn sie auch in anderen Dingen einen solchen Willen und eine solche friedvolle Solidarität an den Tag legen würde…