Der Weg ist das Ziel

Der Weg ist das Ziel. Treffender als für den Jakobsweg kann dieses bekannte Sprichwort ja nicht sein… Niemand wünscht dir auf dem Weg: Komm gut in Santiago de Compostela an!

Buen camino! Einen guten Weg! lautet der Gruss auf und neben dem Weg.

Dieses Der Weg ist das Ziel spüren wir am letzten Tag unserer Pilgerung besonders stark. Die Wegweiser am Wegrand zeigen immer weniger Kilometer an… Noch 15 Kilometer bis Santiago… Noch 10 Kilometer… Noch 2 Kilometer… Es ist eine verrücke Mischung aus Wir haben es bald geschafft! und Es ist bald zu Ende! Eine Mischung aus einer Art Vorfreude und Aufregung, wie als man sich als Kind auf den Geburtstag gefreut hat und einer leisen Wehmut. Wir ertappen uns dabei, wie wir etwas mehr Pausen einlegen, etwas stiller sind… Und kann es sein, dass wir vielleicht sogar etwas langsamer laufen?

Eine Träne rollt unerwartet meine Wange herunter. Sie scheint mich zu fragen: Hast du den letzten Kilometer gelebt? So richtig? Vom Aufsetzen der Ferse auf dem Boden bis zum Abrollen über den Fussballen und die Zehenspitze zum erneuten Heben…? Vom Geruch, nach feuchter Erde im Wald und den unzähligen Grüntönen der Bäume, dem Gezwitscher der Vögel, dem Geräusch der eigenen Schritte auf den Kieselsteinen, den warmen Sonnenstrahlen im Gesicht, dem Gewicht des Rucksacks, das durch die Träger in die Schultern schneidet, bis zum Erspähen der gelben Jakobsmuschel, die den Weg anzeigt?  

Wegweiser auf der letzten Strecke des Camino Portugués
von Padrón nach Santiago de Compostela

Corona-Tagebuch (Teil 2)

2. März bis 10. März 2020

Wir machen den Jakobsweg in Nordwestspanien. Wunderbar. Körperliche Anstrengung, abschalten, frische Luft, schöne Landschaften, gutes Essen… In jedem Restaurant, in jeder Bar, in jedem Café, wo wir eine Pause einlegen, läuft mindestens ein Fernseher. In den Nachrichten an den ersten Tagen: Um die 100 Coronavirus-Fälle in Spanien… mit jedem Frühstück, jedem Mittagessen, jedem Abendessen werden es mehr und mehr und mehr… An unserem Abreisetag sind es schon über 1000.

Nur Wenige machen zu dieser Jahreszeit den Jakobsweg. Wir laufen meist alleine und in den Herbergen, Pensionen und Hotels, wo wir übernachten, sind wir oft die einzigen Gäste. Die Betreiber sind besorgt. Wenn es so weiter geht, wird es eine schlechte Saison. Unterwegs begegnen wir einigen Deutschen, einem Franzosen, drei Süditalienern, einem Chilenen… ES ist immer Thema. Aber alle belächeln es – wir auch. Wir fühlen uns wie Verbündete, Eingeschworene, die über dieser ganzen Hysterie stehen. Man mache ein riesen Theater daraus. Die Symptome seien wie bei einer Grippe. Darf ich von deinem Wasser haben? Ja klar, auf eigene Gefahr… Achtung Coronavirus… Hahaha…. Ich merke, dass ich mir etwas häufiger als sonst die Hände wasche.

Als wir im Pilgerbüro in Santiago de Compostela unseren Pilgerausweis beantragen, ist ein grosser Abstand zu den Angestellten markiert. Ich mache ein erstauntes Gesicht. „Das ist zu Ihrem und unserem Schutz!“, meint die Angestellte mit Plastikhandschuhen. Im Flugzeug auf dem Rückflug zucken wir bei jedem  Niesen oder Husten, das wir in der Nähe hören zusammen und schauen uns um. In der Schweiz angekommen, sitzt im Bus vom Flughafen nach Hause eine Gruppe Norditaliener, die von einem Urlaub zurückkommt. Wir hören, dass sie zum Bahnhof wollen. Sie befürchten, bei der Grenzkontrolle Probleme zu bekommen oder gar in Quarantäne gesteckt zu werden. Wir ertappen uns dabei, wie wir von ihnen Abstand nehmen.

10. März 2020 Nachmittag und Abend

Ich telefoniere mit meinen Eltern. Wir sind zurück, alles ist bestens gelaufen, es war schön, wir sind gesund Mamma, … ja auch nicht erkältet, Mamma… Bevor ich das Telefon auflege, meint meine Mutter noch: „Gut, dass ihr nicht da wart in den letzten Tagen und abschalten konntet! Informiert euch jetzt aber lest auch nicht zu viel…“

Und dann beginne ich – und ich kann nicht mehr aufhören. Berichte, Experten, unterschiedliche Medien, aus verschiedenen Ländern, Symptome, Krankheitsverläufe, Fotos aus Italien, aus China, Wuhan, exponentielles Wachstum, Grafiken, Zahlen, keine Behandlung, Selbst-Isolation, Was muss man beachten?, Impfstoff?, Mails von der Arbeit über Massnahmen, kein Händeschütteln, Wie sollen die Tische desinfiziert werden?, Erklärvideos, Schutzmasken – ja, Schutzmasken – nein, Corona-Fälle an der Fachhochschule, eine ganze Klasse in Quarantäne, positive Tests, negative Tests, COVID-19, wie wird das Virus übertragen, künstliche Beatmung, Pandemie, Überlastung des Gesundheitssystems, Risikogruppen…

Risikogruppen. Meine Eltern. Dürfen wir sie nicht mehr besuchen? Nicht mehr umarmen? Sollten sie nicht mehr aus dem Haus? Wie soll das gehen? Ich bin fix und fertig und verstehe nun den Satz meiner Mutter.