Corona-Tagebuch (Teil 5)

112. März oder so…

Die einzelnen Tage lassen sich nicht mehr so richtig auseinanderhalten. Die Grenzen sind verwischt. Es bleiben Fetzen, Bilder im Kopf, Fotos auf dem Handy, Gefühle, Wörter, Zahlen…

Die Erinnerung an Wochen ohne Schule, ohne Arbeit, ohne Studium, ohne Pilates, ohne Tangokurs, ohne die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, ohne Reisen, ohne Freunde und Familie zu treffen, ohne Händeschütteln, Umarmungen und Begrüssungsküsse, ohne Shopping, ohne Bank oder Post oder sonst irgendwelche Bürogänge, ohne Restaurants, ohne Coiffeur, ohne Ausgang, ohne Kaffeeklatsch in der Pause, ohne Inspiration, ohne Mehl und Toilettenpapier in den Geschäften… Wochen mit Online-Unterricht, mit Selbststudium, mit Kursen per Live-Streaming (sogar Tangounterricht), mit unzähligen Mails, dem Kennenlernen neuer Plattformen, mit Online-Besprechungen, mit Telefonaten und Videoanrufen (so vielen wie noch nie und zu den ungewohntesten Zeiten), mit der Verabschiedung „Bleib gesund!“, mit Laufen und Fahrradfahren, mit eingehaltenen und nicht eingehaltenen Abständen, mit Plexiglasscheiben, mit Fuss- oder Ellbogenbegrüssungen, mit Luxusproblemen, mit systemrelevanten Jobs, mit Homeoffice, mit dem Wunsch produktiv zu sein und der Frage danach, was diese Produktivität eigentlich soll, mit Infekionszahlen, mit Todeszahlen, mit Genesenenzahlen, mit der Entdeckung und Wiederentdeckung von Hobbies, mit Kreativität, mit Zuversicht und Hoffnungsschimmern, mit dunklen Tunnels und Pessimismus, mit Enthusiasmus und Putzattacken, mit Kochen und Backen, was das Zeug hält, dem Ausprobieren neuer Rezepte… Wochen mit Bildern von klatschenden, musizierenden Leuten auf Balkonen, mit Bildern von Särgen, die von Militärfahrzeugen transportiert werden, mit Bildern von Fledermäusen, von leeren Städten und Delfinen in den Kanälen Venedigs, von Demonstrationen, von leeren und vollen Spitälern, von Abdrücken in Gesichtern, die durch das Maskentragen verursacht wurden, mit Bildern von Intensivstationen und Beatmungsgeräten… Wochen mit Entschleunigung und Stress, mit ausgiebigen Frühstücken mitten in der Woche, mit viel Organisatorischem und langen to-do-Listen, mit Kurzarbeit, mit wenig Ausgaben und wenig Einnahmen, mit Ruhe und Nervosität, mit Rücksicht und Egoisten, mit Diskussionen um Freiheit und Selbstbestimmung, mit Information und Desinformation… Wochen mit Aufs und Abs, mit vielen Fragen und einigen Antworten, mit Sorgen…

Sorgen um unsere Lieben, um uns, um Menschen in Asylheimen, um die Zukunft, um die Situation in anderen Ländern, Sorgen um Angehörige und Freunde in Italien und Argentinien, wo es keine Kurzarbeit gibt, wo die Preise in den Supermärkten in die Höhe schnellen, wo jetzt, da wir hier in der Schweiz wieder zu einer sogenannten „Normalität“ zurückkehren, die Infektionszahlen rasant zu steigen beginnen…

Wochen mit DANKBARKEIT. Dankbarkeit im Wissen, dass wir und unsere Lieben gesund sind, ein Dach über dem Kopf, laufendes Wasser und zu Essen haben… und mit Dankbarkeit für die Dankbarkeit, die alles andere als selbstverständlich zu sein scheint.    

Der Weg ist das Ziel

Der Weg ist das Ziel. Treffender als für den Jakobsweg kann dieses bekannte Sprichwort ja nicht sein… Niemand wünscht dir auf dem Weg: Komm gut in Santiago de Compostela an!

Buen camino! Einen guten Weg! lautet der Gruss auf und neben dem Weg.

Dieses Der Weg ist das Ziel spüren wir am letzten Tag unserer Pilgerung besonders stark. Die Wegweiser am Wegrand zeigen immer weniger Kilometer an… Noch 15 Kilometer bis Santiago… Noch 10 Kilometer… Noch 2 Kilometer… Es ist eine verrücke Mischung aus Wir haben es bald geschafft! und Es ist bald zu Ende! Eine Mischung aus einer Art Vorfreude und Aufregung, wie als man sich als Kind auf den Geburtstag gefreut hat und einer leisen Wehmut. Wir ertappen uns dabei, wie wir etwas mehr Pausen einlegen, etwas stiller sind… Und kann es sein, dass wir vielleicht sogar etwas langsamer laufen?

Eine Träne rollt unerwartet meine Wange herunter. Sie scheint mich zu fragen: Hast du den letzten Kilometer gelebt? So richtig? Vom Aufsetzen der Ferse auf dem Boden bis zum Abrollen über den Fussballen und die Zehenspitze zum erneuten Heben…? Vom Geruch, nach feuchter Erde im Wald und den unzähligen Grüntönen der Bäume, dem Gezwitscher der Vögel, dem Geräusch der eigenen Schritte auf den Kieselsteinen, den warmen Sonnenstrahlen im Gesicht, dem Gewicht des Rucksacks, das durch die Träger in die Schultern schneidet, bis zum Erspähen der gelben Jakobsmuschel, die den Weg anzeigt?  

Wegweiser auf der letzten Strecke des Camino Portugués
von Padrón nach Santiago de Compostela

Corona-Tagebuch (Teil 4)

Sonntag 15. März 2020

Wunderschönes Frühlingswetter. Pärke, Wald und Rheinufer sind voll von Menschen, die spazieren und die Sonne geniessen. Mein Mann arbeitet in einem Gastronomiebetrieb und berichtet von Leuten, die essen gehen als wäre es ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Ist das der sogenannte Ernst der Lage? Ich fahre mit dem Fahrrad erneut zu meinen Eltern und teile ihnen im Garten auf Abstand mit, dass wir nicht mehr so tun können, als ob nichts wäre. Wir können sie nicht mehr besuchen und zusammen am Tisch sitzen. Auch sollten sie Kontakte mit anderen Leuten vermeiden, nicht mehr nach draussen gehen, wir können für sie einkaufen. Sie wirken zunächst überrascht, doch dann können sie unsere Entscheidung nachvollziehen und bedanken sich dafür. Wir sind erleichtert darüber, Klarheit geschaffen zu haben.

Montag 16. März 2020

Der Tag beginnt früh. Das Geschäft meines Mannes schliesst. Er könne die Lebensmittel, die übrig sind holen. Wir haben Waschtag. Zwischen einer Wäsche und der anderen  kaufe ich ein (immer noch oder wieder kein Toilettenpapier in den Geschäften) und renne von einem Ort zum anderen, erledige Bürokratisches, organisiere, vergesse, zu Mittag zu essen. Ich läute bei unseren über 80 jährigen Nachbarn und biete ihnen an, für sie einkaufen zu gehen. Nein, das sei zwar sehr nett aber absolut nicht nötig. An etwas müsse man ja sterben… Sie würden sich keine Sorgen machen. Das Alter sei eine Frage der Einstellung…

Am späten Nachmittag wird nach dem Epidemiegesetz die ausserordentliche Lage deklariert. Ein Armeeeinsatz wird angekündigt – die grösste Mobilmachung seit dem 2. Weltkrieg. Restaurants, Clubs, Geschäfte, Grenzen geschlossen… Zwischendurch hört sich alles so surreal an.

Dienstag 17. März 2020

Ein voller Kühlschrank. Wunderschönes Wetter. Vielleicht ist dieses Herunterfahren, dieses Verlangsamen der Gesellschaft ein Geschenk? Wir können uns all dem widmen, für das wir im Alltag nicht genügend Zeit haben… Sport, lesen, aufräumen, in uns gehen,… und und und… Wir können uns besinnen und auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist im Leben, zur Ruhe kommen.

Zwischendurch Nachrichten. Mehr und mehr Fälle… Das Gesundheitssystem wird an seine Grenzen kommen. Grosse Besorgnis. Tausend Fragen.

Videocalls mit Verwandten in Italien. Sie haben sich inzwischen organisiert. Diese surreale Situation ist ein bisschen so etwas wie Alltag geworden. Sie arbeiten von zu Hause aus, machen Schulaufgaben, haben online Yoga-Unterricht, kochen und backen, was das Zeug hält. Wir lachen zusammen, es ist so schön, zu Zeiten, an denen man sonst nicht sprechen kann, alle zu erreichen. Zwischen einer Anekdote und der anderen immer wieder ihre Ermahnung… Nehmt es ernst! Ihr seid noch etwas früher dran als wir und könnt aus der Situation, in der sich Italien befindet, lernen!

18. März 2020

Putztag.

19. März 2020

Am Mittag klingelt der „An etwas muss man ja sterben-Nachbar“ und meint, er würde mein Angebot für ihn einzukaufen doch gerne annehmen.

Videocalls mit Verwandten in Argentinien. Zwischen einer Anekdote und der anderen immer wieder unsere Ermahnung… Nehmt es ernst! Ihr seid noch etwas früher dran als wir…  

Corona-Tagebuch (Teil 3)

11. März 2020

Am Nachmittag habe ich Unterricht. Ich versuche, im Bus nichts anzufassen und von den anderen Personen Abstand zu halten. Als ich in die Fachhochschule komme, desinfiziere ich mir die Hände. Im Kursraum scheint alles wie normal zu laufen. Ich bin insgeheim froh, dass ich etwas spät dran bin und nur noch einen Platz alleine in der hinteren Reihe finde. Die anderen Studenten sitzen nebeneinander, so wie immer. Ich bin hin und her gerissen und zweifle an meiner Zurechnungsfähigkeit. Bin ich übertrieben? All das, was ich gestern gelesen, gehört, gesehen habe? Sollte ich etwas sagen? Die Dozentin fasst mir an die Schulter, um zu fragen, ob alles klar ist. Ist das ok? Wir machen Partner- und Gruppenübungen und reichen uns verschiedene Bücher herum. Wer nicht möchte wegen des Coronavirus müsse sie nicht anfassen. Augenrollen der Dozentin. Lachen einiger Mitstudenten. Anfassen? Ja? Nein? Eine Bemerkung machen? Ja? Nein? Ich fahre mit einem unguten Gefühl zur Stosszeit mit dem Bus nach Hause.

12. März 2020

Ich muss eine Arbeit verfassen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. In einer Pause schreibe ich der Fachhochschule eine Mail und bitte um einheitliche und verbindliche Massnahmen, wie beispielsweise das Einhalten von Abstand in den Lehrveranstaltungen. Am Abend besuchen wir meine Eltern, halten zwar Abstand aber wir fühlen uns nicht gut dabei.

13. März 2020

Freitag der 13. An der Schule sprechen alle nur über das eine: Wird sie geschlossen? Die Schülerinnen und Schüler sind bestens über die „So schützen wir uns Kampagne“ informiert. Sie machen Witze: Wer ist heute der Seifenboss? Wer ist heute der Konjugationsboss? Sie sitzen alle eng nebeneinander, fassen sich an, lehnen sich an ihre Banknachbarn, teilen Stifte und Bücher… Normaler Schulalltag. Fast. Ein Schüler ist per Videocall von zu Hause aus dabei. Er war in Italien in den Ferien und ist nun in Quarantäne. Vier weitere Schüler fehlen. Sie sind krank. Wir verabschieden uns: Bis nächste Woche – vielleicht!

Sondersitzungen in der Schule, auch bei der Arbeit meines Mannes. Wir warten angespannt auf die Pressekonferenz des Bundesrats. Ich schaue ständig auf die Uhr. Dann  ist es soweit. Die Lage sei ernst… Die Schulen werden geschlossen, in Restaurants sollen sich höchstens 50 Personen aufhalten und weitere Massnahmen. Ich gehe einkaufen und bin nicht die einzige, die die Idee hatte. Volle Einkaufswägen, kein Toilettenpapier mehr, fast kein Mehl, leere Reis- und Teigwarenregale. Ich kaufe auch zwei anstatt wie normalerweise eine Butter und mehr Milch und mehr Tomatensauce als sonst. Die Atmosphäre im Supermarkt ist sehr angespannt. Die Kassiererin flucht und wirkt gehetzt. Die Leute stehen dicht nebeneinander Schlange. Soll ich den vor mir in der Schlange oder diejenige hinter mir bitten, den Abstand zu wahren?

Samstag 14. März 2020

Unzählige Mails. Sämtliche Kurse abgesagt oder verschoben. Immer mehr Corona-Fälle in der Schweiz. Wie wird es weitergehen? Ist unsere finanzielle Existenz gesichert? Was, wenn die Schulen noch länger geschlossen bleiben müssen? Was, wenn es so schlimm wird, wie in Italien? Was, wenn wir bereits angesteckt wurden und es nur nicht wissen? Was, wenn wir andere angesteckt haben? Was, wenn das Ganze länger dauert? Wochen? Monate? Ein Jahr? Mehr? Was, wenn man keinen Impfstoff entwickelt oder dies erst in mehreren Monaten oder gar Jahren geschieht? Was, wenn die Massnahmen keine Wirkung zeigen?  Was, wenn man nicht mehr reisen kann? Unsere Sommerferien? Fallen sie ins Wasser? Was, wenn wir für eine lange Zeit nicht nach Argentinien fliegen können, um die Familie zu besuchen? Was, wenn das alles nur Luxusprobleme werden? Was, wenn es nur noch ein Vor und ein Nach dem Coronavirus geben wird? Nichts wieder so wird, wie es war? Ich habe starke Kopfschmerzen und sinke bereits um 20 Uhr in einen tiefen Schlaf.

Corona-Tagebuch (Teil 2)

2. März bis 10. März 2020

Wir machen den Jakobsweg in Nordwestspanien. Wunderbar. Körperliche Anstrengung, abschalten, frische Luft, schöne Landschaften, gutes Essen… In jedem Restaurant, in jeder Bar, in jedem Café, wo wir eine Pause einlegen, läuft mindestens ein Fernseher. In den Nachrichten an den ersten Tagen: Um die 100 Coronavirus-Fälle in Spanien… mit jedem Frühstück, jedem Mittagessen, jedem Abendessen werden es mehr und mehr und mehr… An unserem Abreisetag sind es schon über 1000.

Nur Wenige machen zu dieser Jahreszeit den Jakobsweg. Wir laufen meist alleine und in den Herbergen, Pensionen und Hotels, wo wir übernachten, sind wir oft die einzigen Gäste. Die Betreiber sind besorgt. Wenn es so weiter geht, wird es eine schlechte Saison. Unterwegs begegnen wir einigen Deutschen, einem Franzosen, drei Süditalienern, einem Chilenen… ES ist immer Thema. Aber alle belächeln es – wir auch. Wir fühlen uns wie Verbündete, Eingeschworene, die über dieser ganzen Hysterie stehen. Man mache ein riesen Theater daraus. Die Symptome seien wie bei einer Grippe. Darf ich von deinem Wasser haben? Ja klar, auf eigene Gefahr… Achtung Coronavirus… Hahaha…. Ich merke, dass ich mir etwas häufiger als sonst die Hände wasche.

Als wir im Pilgerbüro in Santiago de Compostela unseren Pilgerausweis beantragen, ist ein grosser Abstand zu den Angestellten markiert. Ich mache ein erstauntes Gesicht. „Das ist zu Ihrem und unserem Schutz!“, meint die Angestellte mit Plastikhandschuhen. Im Flugzeug auf dem Rückflug zucken wir bei jedem  Niesen oder Husten, das wir in der Nähe hören zusammen und schauen uns um. In der Schweiz angekommen, sitzt im Bus vom Flughafen nach Hause eine Gruppe Norditaliener, die von einem Urlaub zurückkommt. Wir hören, dass sie zum Bahnhof wollen. Sie befürchten, bei der Grenzkontrolle Probleme zu bekommen oder gar in Quarantäne gesteckt zu werden. Wir ertappen uns dabei, wie wir von ihnen Abstand nehmen.

10. März 2020 Nachmittag und Abend

Ich telefoniere mit meinen Eltern. Wir sind zurück, alles ist bestens gelaufen, es war schön, wir sind gesund Mamma, … ja auch nicht erkältet, Mamma… Bevor ich das Telefon auflege, meint meine Mutter noch: „Gut, dass ihr nicht da wart in den letzten Tagen und abschalten konntet! Informiert euch jetzt aber lest auch nicht zu viel…“

Und dann beginne ich – und ich kann nicht mehr aufhören. Berichte, Experten, unterschiedliche Medien, aus verschiedenen Ländern, Symptome, Krankheitsverläufe, Fotos aus Italien, aus China, Wuhan, exponentielles Wachstum, Grafiken, Zahlen, keine Behandlung, Selbst-Isolation, Was muss man beachten?, Impfstoff?, Mails von der Arbeit über Massnahmen, kein Händeschütteln, Wie sollen die Tische desinfiziert werden?, Erklärvideos, Schutzmasken – ja, Schutzmasken – nein, Corona-Fälle an der Fachhochschule, eine ganze Klasse in Quarantäne, positive Tests, negative Tests, COVID-19, wie wird das Virus übertragen, künstliche Beatmung, Pandemie, Überlastung des Gesundheitssystems, Risikogruppen…

Risikogruppen. Meine Eltern. Dürfen wir sie nicht mehr besuchen? Nicht mehr umarmen? Sollten sie nicht mehr aus dem Haus? Wie soll das gehen? Ich bin fix und fertig und verstehe nun den Satz meiner Mutter.

Corona-Tagebuch (Teil 1)

Irgendwann im Januar 2020

Beim Überfliegen der Nachrichten im Netz registriere ich ES immer wieder mal aber nur so am Rande zwischen Iran – USA – Protesten wegen Rentenreformen in Frankreich – ein Virus in ChinaFotos von Vermummtendie Zahl der Infizierten steigt – Ratifizierung des Brexit-Abkommens – Greta am WEF…

Irgendwann im Februar 2020

An der Schule, unter Kollegen, in Kursen… Dieses Corona-Virus… Reine Panikmacherei… An einer normalen Grippe sterben viel mehr Personen… Ich kann es schon nicht mehr hören… Ich auch nicht… Also ob es etwas Neues wäre, dass man sich die Hände waschen soll… ES überschattet alle anderen viel tragischeren Nachrichten… Ja… also wirklich… Die eine Klasse hat vereinbart, dass alle, die das Wort „Coronavirus“ aussprechen, einen Kuchen für die Klasse backen müssen… Hahaha… Gute Idee… In Italien… Die Italiener, wie immer… voll übertrieben…

Mein Schwager, der uns im Frühling aus Argentinien besuchen sollte, teilt uns mit, dass sein Flug von Mailand aus gestrichen wurde. Wir sind enttäuscht und es tut uns leid, dass er seine seit langem geplante Reise nicht machen kann.

28. Februar 2020

Der Bundesrat beschliesst, in der Schweiz Veranstaltungen mit über 1000 Personen zu verbieten – das heisst u.a. keine Basler – Fasnacht. Was? Besondere Lage aufgrund der Coronavirus-Epidemie… Das letzte Mal wurde die Fasnacht vor 100 Jahren wegen einer Grippewelle verschoben… Aber ganz abgesagt? Die armen Fasnächtler, die sich gefreut und sich das ganze Jahr darauf vorbereitet haben… Ist es denn wirklich so schlimm mit diesem Virus? Einige Experten meinen, die Ansteckungsgefahr sei doch gar nicht so gross, wenn man draussen sei, wie im Falle der Fasnacht und man Masken trage… Oder etwa doch, wenn man eine solche Massnahme ergreift?

29. Februar 2020

Wir packen. Morgen gehen wir nach Spanien in die Ferien. Mein Vater hat Bedenken… Wäre es nicht sinnvoller, angesichts der „Corona-Situation“ nicht zu verreisen? Wir finden es übertrieben. Die Ferien waren schon lange geplant und wir haben sie nötig. Ausserdem sind wir kerngesund – also kein Grund zur Panik. Passt auf euch auf… Ja, ihr auch!

1. März 2020

Die ersten Personen mit Masken sind am Flughafen zu sehen… Etwas unheimlich irgendwie. Aber die sind doch hysterisch. Im Flugzeug sitzt eine Asiatin vor uns, die eine Schutzmaske trägt und alles nur mit Taschentüchern anfasst. WTF???

Fragen und eine Liebeserklärung

Schon als ich klein war wusste ich, dass ich eines Tages nach Argentinien und Buenos Aires gehen würde. War es eine Vorahnung oder Schicksal? Ich weiss es nicht aber hier bin ich. Das klingt wie im Märchen, oder? Aber nein… keineswegs… So ist es nicht. Es war keine Liebe auf den ersten Blick mit Buenos Aires und unsere Beziehung ist nicht immer einfach. Wenn man ins Ausland geht, ist es wie mit einer Schwangerschaft… alle sagen: “Ach wie schön…” und erwarten von dir, dass du das selbe sagst und dass du überglücklich bist, ein Kind zu bekommen. Aber die Realität sieht anders aus. Es gibt Hochs und Tiefs und die Tiefs sind manchmal häufiger als die Hochs aber niemand spricht davon.

Und so ist es auch mit Buenos Aires. Es gibt Tage, an denen du hinaus gehst und in eine saftige Hundescheisse trittst, die mitten auf dem Trottoir liegt und du alle argentinischen Hunde mitsamt ihren Herrchen verfluchst. Tage, an denen die Feuchtigkeit dich fast umbringt und du eine halbe Ewigkeit auf den Bus wartest, bis du irgendwann mal erfährst, dass die Hauptstrasse Nueve de Julio gesperrt ist. Dies geschieht jede Woche ein paar Mal und das heisst dann, dass gar nichts mehr geht! Und „gar nichts“ heisst in diesem Fall auch „gar nichts“! Tage, an denen dich zwei Typen auf einem Motorrad nett, also ohne Waffe bitten, ihnen die Tasche zu geben. Und wenn das nicht genug wäre, triffst du dich dann am Abend noch mit Freunden und Bekannten und alle stellen dir die selben Fragen: Was machst du hier? Bleibst du hier? Und wie ist es denn dort, in der Schweiz?

Aber naja, obwohl es im Moment wahrscheinlich noch so klingt, als würde ich mich nur über Buenos Aires und Argentinien auslassen, lästern und Witze über die Argentinier reissen wollen, geht es hier um eine Liebeserklärung. Eine Liebeserklärung an Buenos Aires und an die Liebe, die ich hier in Argentinien gefunden habe. Denn jedes Wort, das ich schreibe, schreibe ich im Bewusstsein, eine Entscheidung getroffen zu haben: die Entscheidung hier zu leben und diese Liebe zu leben. Ich würde die selbe Entscheidung 1000 mal wieder treffen.

Was nun die Frage betrifft: Bleibst du hier? Das ist eine andere Sache. Ich weiss noch nicht, wie lange ich hier bleiben werde. Im Moment geht es darum, mich an diese verrückte Stadt zu gewöhnen, den Alltag zu leben und so vielleicht eines Tages diese Frage besser beantworten zu können…

Was Hänschen nicht lernt, …?

„… lernt Hans“, findet Norma Loss. Zum Lernen ist niemand zu alt – und auch nicht, um sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln zu machen.

Norma meine über 80 jährige Schülerin

5 Minuten später als vereinbart und damit nicht ganz so pünktlich wie sonst ist Norma im Café, in dem wir uns verabredet haben. Wie jeden Donnerstag erscheint sie klassisch, elegant in Brauntönen gekleidet. Ihre Frisur sitzt perfekt. Obwohl sie vom Gehen etwas ausser Atem ist, strahlt sie die gewohnte Ruhe aus. Eine echte Señora eben. «Weißt du, ich habe die U-Bahnfahrkarte vergessen und musste wieder zurück nach Hause, um sie zu holen. Ich weiss nicht weshalb aber auf dem Weg hierher ist mir plötzlich ein Wort eingefallen: „gegessen“. Das ist das Partizip II von „essen“, richtig? Warum repetiert man denn dieses „ge“? Wäre „gessen“ nicht einfacher gewesen?»

Norma ist eine meiner Schülerinnen am Sprachinstitut in Buenos Aires. Die älteste, um genau zu sein und die weiseste von allen, wie ich manchmal scherze. «Ich bin ganze 50 Jahre älter als du», lacht sie. «Ein halbes Jahrhundert!», fährt es mir durch den Kopf. Auf meine Frage, weshalb sie sich mit 82 Jahren entschieden habe, Deutsch zu lernen, meint sie: «Ich wollte meinen Kopf arbeiten lassen. In meinem Alter kann man die körperlichen Probleme nicht umgehen aber der da, (sie tippt sich an den Kopf) sollte sich ein bisschen anstrengen. Und da Deutsch eine schwierige Sprache ist, habe ich mich im Kurs eingeschrieben. Etwas Einfaches zu lernen, interessierte mich nicht.» Mehrere lateinische Sprachen könne sie schon, diese seien einfach. Eigentlich hätte sie ja gerne Philologie studiert, da sie den Dingen gern auf den Grund gehe und beispielsweise wissen möchte, woher ein Wort kommt.

Verschiedene Studien zeigen auf, was Norma schon lange zu wissen scheint: Nämlich wie wichtig es ist, auch im Alter das Gehirn stets zu beschäftigen und zu trainieren. Dabei spielt es keine Rolle, womit – sei es Klavierspielen, Malen oder eben eine Fremdsprache lernen – Hauptsache man lernt etwas Neues. «Aber Deutsch ist schwierig», meint Norma. «Vor allem, weil ich nicht genug übe. Aber gestern und heute habe ich ein bisschen gelernt.»

Im Allgemeinen findet sie, mache man viel zu schnell vorwärts im Unterricht – deshalb hätte sie eine Stufe zweimal gemacht, um die Basis besser zu fixieren. «Wir brauchen etwas mehr Ruhe, um zu lernen… Jung und alt.» Mit Rhythmus und Reimen lerne sie gern, das helfe, wenn man eine Sprache lerne. Sie wisse, dass das Auswendiglernen heute etwas aus der Mode sei. Obwohl sie vor langer, langer Zeit Italienisch gelernt habe, könne sie sich aber bis heute noch an den Eintritt ins Höllentor von Dante erinnern, den sie damals auswendig gelernt hatte. Und schon rezitiert sie mit Inbrunst: «Per me si va nella città dolente… Ich bin eben eine geborene Schauspielerin, meine Liebe!»

Mit Norma zusammen im Kurs sind vier Studenten, die sich in den Zwanzigern befinden, eine 30 jährige Biologin und ein SAP-Spezialist in den Mittdreissigern. Oft machen wir Gruppen- und Partnerarbeiten, in denen man zusammen eine Aufgabe löst und sich austauscht. Auch in den Pausen wird viel diskutiert und gelacht – nicht selten über Deutsch – das verbindende Element. In einer Lektion sprechen wir über Musik und so kommt es, dass Norma zum ersten Mal Elektronische Musik hört – «Lustig», findet sie lachend. Sie bleibe jedoch lieber beim Tango. Im Gegenzug gibt sie immer wieder mal eine Anekdote „von früher“ zum Besten. Mit Mails und Internet & Co. hat Norma keine Probleme, da sie ja auch ganz schön viel Zeit vor diesem Apparat sitze. Schade findet sie, dass es auf Netflix nicht so viele deutsche Filme gibt.

Dass sie nicht neugierig und offen für Neues sei, kann man Norma nun wirklich nicht vorwerfen. Laut Soziologen, eine der besten Voraussetzungen für gutes Altern. Genauso wie eine wirtschaftliche Absicherung, ein stabiles Sozialleben und moderate Aktivitäten.

Auf die Frage hin, wie sie sich im Kurs fühle, wird Norma ernst. «Manchmal fühle ich mich etwas schuldig, weil ich lieber mit Jungen als mit Alten zusammen bin. Und dabei bin ich ja auch eine Alte, verflucht noch mal…» Aber sie arbeite eben lieber mit Jungen zusammen. Da fühle sie sich super. Wenn sie dann im Himmel sei, meint sie und zeigt mit dem Finger nach oben, dann würde man eben mit ihr abrechnen.

Als ich sie auf ihren deutschen Nachnamen anspreche, erzählt sie mir ein ganzes Stück Familiengeschichte. Die Familie ihres Vaters stamme aus dem Tirol. Dort heisst es, seien sie in einer ganz guten ökonomischen Position gewesen. «Mein Grossvater verliebte sich jedoch in eine Hausangestellte und da dies zu jener Zeit von der Familie nicht akzeptiert wurde, flohen sie über die Alpen nach Genua. Von dort aus nahmen sie ein Schiff nach Brasilien, wo sie während mehrerer Jahre im Kaffeeanbau tätig waren. Ein paar meiner Tanten und Onkel kamen dort auf die Welt. Eines Tages kehrten sie jedoch, nachdem sie etwas Geld gemacht hatten, nach Italien zurück. Mein Vater wuchs in der Region um Vicenza auf und machte dort auch den Militärdienst. Als er um die Dreissig war, kam er nach Argentinien. Hier lernte er meine Mutter kennen, die Tochter von italienischen Einwanderern war – eine Bianchini. In Buenos Aires führten sie eine Metzgerei.»

Eine Migrationsgeschichte, wie es sie in vielen Familien Argentiniens anzutreffen gibt. Zwischen 1850 und 1950 schifften sich tausende und abertausende Europäer im Hafen von Genua ein. Vor allem Italiener aber auch Spanier, Franzosen, Deutsche und Schweizer kamen, so wie Normas Vorfahren, mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in das südamerikanische Land. Wenn man die Namenslisten in den Sprachkursen durchgeht, wird man sich dieses riesigen Migrationflusses bewusst. Viele meiner Schüler und Schülerinnen lernen beispielsweise Deutsch oder Italienisch, um ihre Wurzeln besser kennen zu lernen, um einen Kontakt zu Verwandten in Europa wieder herzustellen und etwas über ihre Familiengeschichte zu erfahren. Auch Norma meint: «Weißt du, ich möchte etwas besser Deutsch lernen, um wenn ich nach Europa reise, etwas verstehen zu können. Es gibt ein Dorf im Tirol, da sollen ganz viele Loss leben und ich möchte mit meinen entfernten Verwandten sprechen können.»

Als ich sie um ein paar Worte bitte, die andere ältere Leute dazu ermutigen sollen, eine Sprache zu lernen, meint sie: «Einen Tipp für die Alten? Es ist absolut notwendig, je älter wir werden den Intellekt zu trainieren auch wenn wir unseren Körper nicht mehr so gut bewegen können. Denn was gibt es besseres, als mit einem klaren Verstand zu sterben? Ist das genug? Sonst kann ich noch lange weiter sprechen», lacht sie. Doch es ist schon spät – in 20 Minuten beginnt der Deutschkurs. «Moment, lass es mich auf Deutsch sagen!» Konzentriert schaut Norma auf ihre Uhr und formuliert jedes Wort langsam auf Deutsch: «Es ist 20 vor 6.» Als wir gemeinsam die drei Stöcke in Richtung Klassenzimmer hinaufsteigen und sie sich nicht ein bisschen darüber beklagt, dass es keinen Lift im Gebäude gibt, denke ich mir, dass wir alle noch viel von und mit Norma lernen können.