Corona-Tagebuch (Teil 5)

112. März oder so…

Die einzelnen Tage lassen sich nicht mehr so richtig auseinanderhalten. Die Grenzen sind verwischt. Es bleiben Fetzen, Bilder im Kopf, Fotos auf dem Handy, Gefühle, Wörter, Zahlen…

Die Erinnerung an Wochen ohne Schule, ohne Arbeit, ohne Studium, ohne Pilates, ohne Tangokurs, ohne die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, ohne Reisen, ohne Freunde und Familie zu treffen, ohne Händeschütteln, Umarmungen und Begrüssungsküsse, ohne Shopping, ohne Bank oder Post oder sonst irgendwelche Bürogänge, ohne Restaurants, ohne Coiffeur, ohne Ausgang, ohne Kaffeeklatsch in der Pause, ohne Inspiration, ohne Mehl und Toilettenpapier in den Geschäften… Wochen mit Online-Unterricht, mit Selbststudium, mit Kursen per Live-Streaming (sogar Tangounterricht), mit unzähligen Mails, dem Kennenlernen neuer Plattformen, mit Online-Besprechungen, mit Telefonaten und Videoanrufen (so vielen wie noch nie und zu den ungewohntesten Zeiten), mit der Verabschiedung „Bleib gesund!“, mit Laufen und Fahrradfahren, mit eingehaltenen und nicht eingehaltenen Abständen, mit Plexiglasscheiben, mit Fuss- oder Ellbogenbegrüssungen, mit Luxusproblemen, mit systemrelevanten Jobs, mit Homeoffice, mit dem Wunsch produktiv zu sein und der Frage danach, was diese Produktivität eigentlich soll, mit Infekionszahlen, mit Todeszahlen, mit Genesenenzahlen, mit der Entdeckung und Wiederentdeckung von Hobbies, mit Kreativität, mit Zuversicht und Hoffnungsschimmern, mit dunklen Tunnels und Pessimismus, mit Enthusiasmus und Putzattacken, mit Kochen und Backen, was das Zeug hält, dem Ausprobieren neuer Rezepte… Wochen mit Bildern von klatschenden, musizierenden Leuten auf Balkonen, mit Bildern von Särgen, die von Militärfahrzeugen transportiert werden, mit Bildern von Fledermäusen, von leeren Städten und Delfinen in den Kanälen Venedigs, von Demonstrationen, von leeren und vollen Spitälern, von Abdrücken in Gesichtern, die durch das Maskentragen verursacht wurden, mit Bildern von Intensivstationen und Beatmungsgeräten… Wochen mit Entschleunigung und Stress, mit ausgiebigen Frühstücken mitten in der Woche, mit viel Organisatorischem und langen to-do-Listen, mit Kurzarbeit, mit wenig Ausgaben und wenig Einnahmen, mit Ruhe und Nervosität, mit Rücksicht und Egoisten, mit Diskussionen um Freiheit und Selbstbestimmung, mit Information und Desinformation… Wochen mit Aufs und Abs, mit vielen Fragen und einigen Antworten, mit Sorgen…

Sorgen um unsere Lieben, um uns, um Menschen in Asylheimen, um die Zukunft, um die Situation in anderen Ländern, Sorgen um Angehörige und Freunde in Italien und Argentinien, wo es keine Kurzarbeit gibt, wo die Preise in den Supermärkten in die Höhe schnellen, wo jetzt, da wir hier in der Schweiz wieder zu einer sogenannten „Normalität“ zurückkehren, die Infektionszahlen rasant zu steigen beginnen…

Wochen mit DANKBARKEIT. Dankbarkeit im Wissen, dass wir und unsere Lieben gesund sind, ein Dach über dem Kopf, laufendes Wasser und zu Essen haben… und mit Dankbarkeit für die Dankbarkeit, die alles andere als selbstverständlich zu sein scheint.    

Corona-Tagebuch (Teil 4)

Sonntag 15. März 2020

Wunderschönes Frühlingswetter. Pärke, Wald und Rheinufer sind voll von Menschen, die spazieren und die Sonne geniessen. Mein Mann arbeitet in einem Gastronomiebetrieb und berichtet von Leuten, die essen gehen als wäre es ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Ist das der sogenannte Ernst der Lage? Ich fahre mit dem Fahrrad erneut zu meinen Eltern und teile ihnen im Garten auf Abstand mit, dass wir nicht mehr so tun können, als ob nichts wäre. Wir können sie nicht mehr besuchen und zusammen am Tisch sitzen. Auch sollten sie Kontakte mit anderen Leuten vermeiden, nicht mehr nach draussen gehen, wir können für sie einkaufen. Sie wirken zunächst überrascht, doch dann können sie unsere Entscheidung nachvollziehen und bedanken sich dafür. Wir sind erleichtert darüber, Klarheit geschaffen zu haben.

Montag 16. März 2020

Der Tag beginnt früh. Das Geschäft meines Mannes schliesst. Er könne die Lebensmittel, die übrig sind holen. Wir haben Waschtag. Zwischen einer Wäsche und der anderen  kaufe ich ein (immer noch oder wieder kein Toilettenpapier in den Geschäften) und renne von einem Ort zum anderen, erledige Bürokratisches, organisiere, vergesse, zu Mittag zu essen. Ich läute bei unseren über 80 jährigen Nachbarn und biete ihnen an, für sie einkaufen zu gehen. Nein, das sei zwar sehr nett aber absolut nicht nötig. An etwas müsse man ja sterben… Sie würden sich keine Sorgen machen. Das Alter sei eine Frage der Einstellung…

Am späten Nachmittag wird nach dem Epidemiegesetz die ausserordentliche Lage deklariert. Ein Armeeeinsatz wird angekündigt – die grösste Mobilmachung seit dem 2. Weltkrieg. Restaurants, Clubs, Geschäfte, Grenzen geschlossen… Zwischendurch hört sich alles so surreal an.

Dienstag 17. März 2020

Ein voller Kühlschrank. Wunderschönes Wetter. Vielleicht ist dieses Herunterfahren, dieses Verlangsamen der Gesellschaft ein Geschenk? Wir können uns all dem widmen, für das wir im Alltag nicht genügend Zeit haben… Sport, lesen, aufräumen, in uns gehen,… und und und… Wir können uns besinnen und auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist im Leben, zur Ruhe kommen.

Zwischendurch Nachrichten. Mehr und mehr Fälle… Das Gesundheitssystem wird an seine Grenzen kommen. Grosse Besorgnis. Tausend Fragen.

Videocalls mit Verwandten in Italien. Sie haben sich inzwischen organisiert. Diese surreale Situation ist ein bisschen so etwas wie Alltag geworden. Sie arbeiten von zu Hause aus, machen Schulaufgaben, haben online Yoga-Unterricht, kochen und backen, was das Zeug hält. Wir lachen zusammen, es ist so schön, zu Zeiten, an denen man sonst nicht sprechen kann, alle zu erreichen. Zwischen einer Anekdote und der anderen immer wieder ihre Ermahnung… Nehmt es ernst! Ihr seid noch etwas früher dran als wir und könnt aus der Situation, in der sich Italien befindet, lernen!

18. März 2020

Putztag.

19. März 2020

Am Mittag klingelt der „An etwas muss man ja sterben-Nachbar“ und meint, er würde mein Angebot für ihn einzukaufen doch gerne annehmen.

Videocalls mit Verwandten in Argentinien. Zwischen einer Anekdote und der anderen immer wieder unsere Ermahnung… Nehmt es ernst! Ihr seid noch etwas früher dran als wir…  

Corona-Tagebuch (Teil 3)

11. März 2020

Am Nachmittag habe ich Unterricht. Ich versuche, im Bus nichts anzufassen und von den anderen Personen Abstand zu halten. Als ich in die Fachhochschule komme, desinfiziere ich mir die Hände. Im Kursraum scheint alles wie normal zu laufen. Ich bin insgeheim froh, dass ich etwas spät dran bin und nur noch einen Platz alleine in der hinteren Reihe finde. Die anderen Studenten sitzen nebeneinander, so wie immer. Ich bin hin und her gerissen und zweifle an meiner Zurechnungsfähigkeit. Bin ich übertrieben? All das, was ich gestern gelesen, gehört, gesehen habe? Sollte ich etwas sagen? Die Dozentin fasst mir an die Schulter, um zu fragen, ob alles klar ist. Ist das ok? Wir machen Partner- und Gruppenübungen und reichen uns verschiedene Bücher herum. Wer nicht möchte wegen des Coronavirus müsse sie nicht anfassen. Augenrollen der Dozentin. Lachen einiger Mitstudenten. Anfassen? Ja? Nein? Eine Bemerkung machen? Ja? Nein? Ich fahre mit einem unguten Gefühl zur Stosszeit mit dem Bus nach Hause.

12. März 2020

Ich muss eine Arbeit verfassen. Es fällt mir schwer, mich zu konzentrieren. In einer Pause schreibe ich der Fachhochschule eine Mail und bitte um einheitliche und verbindliche Massnahmen, wie beispielsweise das Einhalten von Abstand in den Lehrveranstaltungen. Am Abend besuchen wir meine Eltern, halten zwar Abstand aber wir fühlen uns nicht gut dabei.

13. März 2020

Freitag der 13. An der Schule sprechen alle nur über das eine: Wird sie geschlossen? Die Schülerinnen und Schüler sind bestens über die „So schützen wir uns Kampagne“ informiert. Sie machen Witze: Wer ist heute der Seifenboss? Wer ist heute der Konjugationsboss? Sie sitzen alle eng nebeneinander, fassen sich an, lehnen sich an ihre Banknachbarn, teilen Stifte und Bücher… Normaler Schulalltag. Fast. Ein Schüler ist per Videocall von zu Hause aus dabei. Er war in Italien in den Ferien und ist nun in Quarantäne. Vier weitere Schüler fehlen. Sie sind krank. Wir verabschieden uns: Bis nächste Woche – vielleicht!

Sondersitzungen in der Schule, auch bei der Arbeit meines Mannes. Wir warten angespannt auf die Pressekonferenz des Bundesrats. Ich schaue ständig auf die Uhr. Dann  ist es soweit. Die Lage sei ernst… Die Schulen werden geschlossen, in Restaurants sollen sich höchstens 50 Personen aufhalten und weitere Massnahmen. Ich gehe einkaufen und bin nicht die einzige, die die Idee hatte. Volle Einkaufswägen, kein Toilettenpapier mehr, fast kein Mehl, leere Reis- und Teigwarenregale. Ich kaufe auch zwei anstatt wie normalerweise eine Butter und mehr Milch und mehr Tomatensauce als sonst. Die Atmosphäre im Supermarkt ist sehr angespannt. Die Kassiererin flucht und wirkt gehetzt. Die Leute stehen dicht nebeneinander Schlange. Soll ich den vor mir in der Schlange oder diejenige hinter mir bitten, den Abstand zu wahren?

Samstag 14. März 2020

Unzählige Mails. Sämtliche Kurse abgesagt oder verschoben. Immer mehr Corona-Fälle in der Schweiz. Wie wird es weitergehen? Ist unsere finanzielle Existenz gesichert? Was, wenn die Schulen noch länger geschlossen bleiben müssen? Was, wenn es so schlimm wird, wie in Italien? Was, wenn wir bereits angesteckt wurden und es nur nicht wissen? Was, wenn wir andere angesteckt haben? Was, wenn das Ganze länger dauert? Wochen? Monate? Ein Jahr? Mehr? Was, wenn man keinen Impfstoff entwickelt oder dies erst in mehreren Monaten oder gar Jahren geschieht? Was, wenn die Massnahmen keine Wirkung zeigen?  Was, wenn man nicht mehr reisen kann? Unsere Sommerferien? Fallen sie ins Wasser? Was, wenn wir für eine lange Zeit nicht nach Argentinien fliegen können, um die Familie zu besuchen? Was, wenn das alles nur Luxusprobleme werden? Was, wenn es nur noch ein Vor und ein Nach dem Coronavirus geben wird? Nichts wieder so wird, wie es war? Ich habe starke Kopfschmerzen und sinke bereits um 20 Uhr in einen tiefen Schlaf.

Corona-Tagebuch (Teil 2)

2. März bis 10. März 2020

Wir machen den Jakobsweg in Nordwestspanien. Wunderbar. Körperliche Anstrengung, abschalten, frische Luft, schöne Landschaften, gutes Essen… In jedem Restaurant, in jeder Bar, in jedem Café, wo wir eine Pause einlegen, läuft mindestens ein Fernseher. In den Nachrichten an den ersten Tagen: Um die 100 Coronavirus-Fälle in Spanien… mit jedem Frühstück, jedem Mittagessen, jedem Abendessen werden es mehr und mehr und mehr… An unserem Abreisetag sind es schon über 1000.

Nur Wenige machen zu dieser Jahreszeit den Jakobsweg. Wir laufen meist alleine und in den Herbergen, Pensionen und Hotels, wo wir übernachten, sind wir oft die einzigen Gäste. Die Betreiber sind besorgt. Wenn es so weiter geht, wird es eine schlechte Saison. Unterwegs begegnen wir einigen Deutschen, einem Franzosen, drei Süditalienern, einem Chilenen… ES ist immer Thema. Aber alle belächeln es – wir auch. Wir fühlen uns wie Verbündete, Eingeschworene, die über dieser ganzen Hysterie stehen. Man mache ein riesen Theater daraus. Die Symptome seien wie bei einer Grippe. Darf ich von deinem Wasser haben? Ja klar, auf eigene Gefahr… Achtung Coronavirus… Hahaha…. Ich merke, dass ich mir etwas häufiger als sonst die Hände wasche.

Als wir im Pilgerbüro in Santiago de Compostela unseren Pilgerausweis beantragen, ist ein grosser Abstand zu den Angestellten markiert. Ich mache ein erstauntes Gesicht. „Das ist zu Ihrem und unserem Schutz!“, meint die Angestellte mit Plastikhandschuhen. Im Flugzeug auf dem Rückflug zucken wir bei jedem  Niesen oder Husten, das wir in der Nähe hören zusammen und schauen uns um. In der Schweiz angekommen, sitzt im Bus vom Flughafen nach Hause eine Gruppe Norditaliener, die von einem Urlaub zurückkommt. Wir hören, dass sie zum Bahnhof wollen. Sie befürchten, bei der Grenzkontrolle Probleme zu bekommen oder gar in Quarantäne gesteckt zu werden. Wir ertappen uns dabei, wie wir von ihnen Abstand nehmen.

10. März 2020 Nachmittag und Abend

Ich telefoniere mit meinen Eltern. Wir sind zurück, alles ist bestens gelaufen, es war schön, wir sind gesund Mamma, … ja auch nicht erkältet, Mamma… Bevor ich das Telefon auflege, meint meine Mutter noch: „Gut, dass ihr nicht da wart in den letzten Tagen und abschalten konntet! Informiert euch jetzt aber lest auch nicht zu viel…“

Und dann beginne ich – und ich kann nicht mehr aufhören. Berichte, Experten, unterschiedliche Medien, aus verschiedenen Ländern, Symptome, Krankheitsverläufe, Fotos aus Italien, aus China, Wuhan, exponentielles Wachstum, Grafiken, Zahlen, keine Behandlung, Selbst-Isolation, Was muss man beachten?, Impfstoff?, Mails von der Arbeit über Massnahmen, kein Händeschütteln, Wie sollen die Tische desinfiziert werden?, Erklärvideos, Schutzmasken – ja, Schutzmasken – nein, Corona-Fälle an der Fachhochschule, eine ganze Klasse in Quarantäne, positive Tests, negative Tests, COVID-19, wie wird das Virus übertragen, künstliche Beatmung, Pandemie, Überlastung des Gesundheitssystems, Risikogruppen…

Risikogruppen. Meine Eltern. Dürfen wir sie nicht mehr besuchen? Nicht mehr umarmen? Sollten sie nicht mehr aus dem Haus? Wie soll das gehen? Ich bin fix und fertig und verstehe nun den Satz meiner Mutter.