Die einzelnen Tage lassen sich nicht mehr so richtig auseinanderhalten. Die Grenzen sind verwischt. Es bleiben Fetzen, Bilder im Kopf, Fotos auf dem Handy, Gefühle, Wörter, Zahlen…
Die Erinnerung an Wochen ohne Schule, ohne Arbeit, ohne Studium, ohne Pilates, ohne Tangokurs, ohne die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, ohne Reisen, ohne Freunde und Familie zu treffen, ohne Händeschütteln, Umarmungen und Begrüssungsküsse, ohne Shopping, ohne Bank oder Post oder sonst irgendwelche Bürogänge, ohne Restaurants, ohne Coiffeur, ohne Ausgang, ohne Kaffeeklatsch in der Pause, ohne Inspiration, ohne Mehl und Toilettenpapier in den Geschäften… Wochen mit Online-Unterricht, mit Selbststudium, mit Kursen per Live-Streaming (sogar Tangounterricht), mit unzähligen Mails, dem Kennenlernen neuer Plattformen, mit Online-Besprechungen, mit Telefonaten und Videoanrufen (so vielen wie noch nie und zu den ungewohntesten Zeiten), mit der Verabschiedung „Bleib gesund!“, mit Laufen und Fahrradfahren, mit eingehaltenen und nicht eingehaltenen Abständen, mit Plexiglasscheiben, mit Fuss- oder Ellbogenbegrüssungen, mit Luxusproblemen, mit systemrelevanten Jobs, mit Homeoffice, mit dem Wunsch produktiv zu sein und der Frage danach, was diese Produktivität eigentlich soll, mit Infekionszahlen, mit Todeszahlen, mit Genesenenzahlen, mit der Entdeckung und Wiederentdeckung von Hobbies, mit Kreativität, mit Zuversicht und Hoffnungsschimmern, mit dunklen Tunnels und Pessimismus, mit Enthusiasmus und Putzattacken, mit Kochen und Backen, was das Zeug hält, dem Ausprobieren neuer Rezepte… Wochen mit Bildern von klatschenden, musizierenden Leuten auf Balkonen, mit Bildern von Särgen, die von Militärfahrzeugen transportiert werden, mit Bildern von Fledermäusen, von leeren Städten und Delfinen in den Kanälen Venedigs, von Demonstrationen, von leeren und vollen Spitälern, von Abdrücken in Gesichtern, die durch das Maskentragen verursacht wurden, mit Bildern von Intensivstationen und Beatmungsgeräten… Wochen mit Entschleunigung und Stress, mit ausgiebigen Frühstücken mitten in der Woche, mit viel Organisatorischem und langen to-do-Listen, mit Kurzarbeit, mit wenig Ausgaben und wenig Einnahmen, mit Ruhe und Nervosität, mit Rücksicht und Egoisten, mit Diskussionen um Freiheit und Selbstbestimmung, mit Information und Desinformation… Wochen mit Aufs und Abs, mit vielen Fragen und einigen Antworten, mit Sorgen…
Sorgen um unsere Lieben, um uns, um Menschen in Asylheimen, um die Zukunft, um die Situation in anderen Ländern, Sorgen um Angehörige und Freunde in Italien und Argentinien, wo es keine Kurzarbeit gibt, wo die Preise in den Supermärkten in die Höhe schnellen, wo jetzt, da wir hier in der Schweiz wieder zu einer sogenannten „Normalität“ zurückkehren, die Infektionszahlen rasant zu steigen beginnen…
Wochen mit DANKBARKEIT. Dankbarkeit im Wissen, dass wir und unsere Lieben gesund sind, ein Dach über dem Kopf, laufendes Wasser und zu Essen haben… und mit Dankbarkeit für die Dankbarkeit, die alles andere als selbstverständlich zu sein scheint.
Wunderschönes Frühlingswetter. Pärke, Wald und Rheinufer sind voll von Menschen, die spazieren und die Sonne geniessen. Mein Mann arbeitet in einem Gastronomiebetrieb und berichtet von Leuten, die essen gehen als wäre es ein ganz gewöhnlicher Sonntag. Ist das der sogenannte Ernst der Lage? Ich fahre mit dem Fahrrad erneut zu meinen Eltern und teile ihnen im Garten auf Abstand mit, dass wir nicht mehr so tun können, als ob nichts wäre. Wir können sie nicht mehr besuchen und zusammen am Tisch sitzen. Auch sollten sie Kontakte mit anderen Leuten vermeiden, nicht mehr nach draussen gehen, wir können für sie einkaufen. Sie wirken zunächst überrascht, doch dann können sie unsere Entscheidung nachvollziehen und bedanken sich dafür. Wir sind erleichtert darüber, Klarheit geschaffen zu haben.
Montag 16. März 2020
Der Tag beginnt früh. Das Geschäft meines Mannes schliesst. Er könne die Lebensmittel, die übrig sind holen. Wir haben Waschtag. Zwischen einer Wäsche und der anderen kaufe ich ein (immer noch oder wieder kein Toilettenpapier in den Geschäften) und renne von einem Ort zum anderen, erledige Bürokratisches, organisiere, vergesse, zu Mittag zu essen. Ich läute bei unseren über 80 jährigen Nachbarn und biete ihnen an, für sie einkaufen zu gehen. Nein, das sei zwar sehr nett aber absolut nicht nötig. An etwas müsse man ja sterben… Sie würden sich keine Sorgen machen. Das Alter sei eine Frage der Einstellung…
Am späten Nachmittag wird nach dem Epidemiegesetz die ausserordentliche Lage deklariert. Ein Armeeeinsatz wird angekündigt – die grösste Mobilmachung seit dem 2. Weltkrieg. Restaurants, Clubs, Geschäfte, Grenzen geschlossen… Zwischendurch hört sich alles so surreal an.
Dienstag 17. März 2020
Ein voller Kühlschrank. Wunderschönes Wetter. Vielleicht ist dieses Herunterfahren, dieses Verlangsamen der Gesellschaft ein Geschenk? Wir können uns all dem widmen, für das wir im Alltag nicht genügend Zeit haben… Sport, lesen, aufräumen, in uns gehen,… und und und… Wir können uns besinnen und auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist im Leben, zur Ruhe kommen.
Zwischendurch Nachrichten. Mehr und mehr Fälle… Das Gesundheitssystem wird an seine Grenzen kommen. Grosse Besorgnis. Tausend Fragen.
Videocalls mit Verwandten in Italien. Sie haben sich inzwischen organisiert. Diese surreale Situation ist ein bisschen so etwas wie Alltag geworden. Sie arbeiten von zu Hause aus, machen Schulaufgaben, haben online Yoga-Unterricht, kochen und backen, was das Zeug hält. Wir lachen zusammen, es ist so schön, zu Zeiten, an denen man sonst nicht sprechen kann, alle zu erreichen. Zwischen einer Anekdote und der anderen immer wieder ihre Ermahnung… Nehmt es ernst! Ihr seid noch etwas früher dran als wir und könnt aus der Situation, in der sich Italien befindet, lernen!
18. März 2020
Putztag.
19. März 2020
Am Mittag klingelt der „An etwas muss man ja sterben-Nachbar“ und meint, er würde mein Angebot für ihn einzukaufen doch gerne annehmen.
Videocalls mit Verwandten in Argentinien. Zwischen einer Anekdote und der anderen immer wieder unsere Ermahnung… Nehmt es ernst! Ihr seid noch etwas früher dran als wir…
Schon als ich klein war wusste ich, dass ich eines Tages nach Argentinien und Buenos Aires gehen würde. War es eine Vorahnung oder Schicksal? Ich weiss es nicht aber hier bin ich. Das klingt wie im Märchen, oder? Aber nein… keineswegs… So ist es nicht. Es war keine Liebe auf den ersten Blick mit Buenos Aires und unsere Beziehung ist nicht immer einfach. Wenn man ins Ausland geht, ist es wie mit einer Schwangerschaft… alle sagen: “Ach wie schön…” und erwarten von dir, dass du das selbe sagst und dass du überglücklich bist, ein Kind zu bekommen. Aber die Realität sieht anders aus. Es gibt Hochs und Tiefs und die Tiefs sind manchmal häufiger als die Hochs aber niemand spricht davon.
Und so ist es auch mit Buenos Aires. Es gibt Tage, an denen du hinaus gehst und in eine saftige Hundescheisse trittst, die mitten auf dem Trottoir liegt und du alle argentinischen Hunde mitsamt ihren Herrchen verfluchst. Tage, an denen die Feuchtigkeit dich fast umbringt und du eine halbe Ewigkeit auf den Bus wartest, bis du irgendwann mal erfährst, dass die Hauptstrasse Nueve de Julio gesperrt ist. Dies geschieht jede Woche ein paar Mal und das heisst dann, dass gar nichts mehr geht! Und „gar nichts“ heisst in diesem Fall auch „gar nichts“! Tage, an denen dich zwei Typen auf einem Motorrad nett, also ohne Waffe bitten, ihnen die Tasche zu geben. Und wenn das nicht genug wäre, triffst du dich dann am Abend noch mit Freunden und Bekannten und alle stellen dir die selben Fragen: Was machst du hier? Bleibst du hier? Und wie ist es denn dort, in der Schweiz?
Aber naja, obwohl es im Moment wahrscheinlich noch so klingt, als würde ich mich nur über Buenos Aires und Argentinien auslassen, lästern und Witze über die Argentinier reissen wollen, geht es hier um eine Liebeserklärung. Eine Liebeserklärung an Buenos Aires und an die Liebe, die ich hier in Argentinien gefunden habe. Denn jedes Wort, das ich schreibe, schreibe ich im Bewusstsein, eine Entscheidung getroffen zu haben: die Entscheidung hier zu leben und diese Liebe zu leben. Ich würde die selbe Entscheidung 1000 mal wieder treffen.
Was nun die Frage betrifft: Bleibst du hier? Das ist eine andere Sache. Ich weiss noch nicht, wie lange ich hier bleiben werde. Im Moment geht es darum, mich an diese verrückte Stadt zu gewöhnen, den Alltag zu leben und so vielleicht eines Tages diese Frage besser beantworten zu können…
„… lernt Hans“, findet Norma Loss. Zum Lernen ist niemand zu alt – und auch nicht, um sich auf die Suche nach den eigenen Wurzeln zu machen.
Norma meine über 80 jährige Schülerin
5 Minuten später als vereinbart und damit nicht ganz so pünktlich wie sonst ist Norma im Café, in dem wir uns verabredet haben. Wie jeden Donnerstag erscheint sie klassisch, elegant in Brauntönen gekleidet. Ihre Frisur sitzt perfekt. Obwohl sie vom Gehen etwas ausser Atem ist, strahlt sie die gewohnte Ruhe aus. Eine echte Señora eben. «Weißt du, ich habe die U-Bahnfahrkarte vergessen und musste wieder zurück nach Hause, um sie zu holen. Ich weiss nicht weshalb aber auf dem Weg hierher ist mir plötzlich ein Wort eingefallen: „gegessen“. Das ist das Partizip II von „essen“, richtig? Warum repetiert man denn dieses „ge“? Wäre „gessen“ nicht einfacher gewesen?»
Norma ist eine meiner Schülerinnen am Sprachinstitut in Buenos Aires. Die älteste, um genau zu sein und die weiseste von allen, wie ich manchmal scherze. «Ich bin ganze 50 Jahre älter als du», lacht sie. «Ein halbes Jahrhundert!», fährt es mir durch den Kopf. Auf meine Frage, weshalb sie sich mit 82 Jahren entschieden habe, Deutsch zu lernen, meint sie: «Ich wollte meinen Kopf arbeiten lassen. In meinem Alter kann man die körperlichen Probleme nicht umgehen aber der da, (sie tippt sich an den Kopf) sollte sich ein bisschen anstrengen. Und da Deutsch eine schwierige Sprache ist, habe ich mich im Kurs eingeschrieben. Etwas Einfaches zu lernen, interessierte mich nicht.» Mehrere lateinische Sprachen könne sie schon, diese seien einfach. Eigentlich hätte sie ja gerne Philologie studiert, da sie den Dingen gern auf den Grund gehe und beispielsweise wissen möchte, woher ein Wort kommt.
Verschiedene Studien zeigen auf, was Norma schon lange zu wissen scheint: Nämlich wie wichtig es ist, auch im Alter das Gehirn stets zu beschäftigen und zu trainieren. Dabei spielt es keine Rolle, womit – sei es Klavierspielen, Malen oder eben eine Fremdsprache lernen – Hauptsache man lernt etwas Neues. «Aber Deutsch ist schwierig», meint Norma. «Vor allem, weil ich nicht genug übe. Aber gestern und heute habe ich ein bisschen gelernt.»
Im Allgemeinen findet sie, mache man viel zu schnell vorwärts im Unterricht – deshalb hätte sie eine Stufe zweimal gemacht, um die Basis besser zu fixieren. «Wir brauchen etwas mehr Ruhe, um zu lernen… Jung und alt.» Mit Rhythmus und Reimen lerne sie gern, das helfe, wenn man eine Sprache lerne. Sie wisse, dass das Auswendiglernen heute etwas aus der Mode sei. Obwohl sie vor langer, langer Zeit Italienisch gelernt habe, könne sie sich aber bis heute noch an den Eintritt ins Höllentor von Dante erinnern, den sie damals auswendig gelernt hatte. Und schon rezitiert sie mit Inbrunst: «Per me si va nella città dolente… Ich bin eben eine geborene Schauspielerin, meine Liebe!»
Mit Norma zusammen im Kurs sind vier Studenten, die sich in den Zwanzigern befinden, eine 30 jährige Biologin und ein SAP-Spezialist in den Mittdreissigern. Oft machen wir Gruppen- und Partnerarbeiten, in denen man zusammen eine Aufgabe löst und sich austauscht. Auch in den Pausen wird viel diskutiert und gelacht – nicht selten über Deutsch – das verbindende Element. In einer Lektion sprechen wir über Musik und so kommt es, dass Norma zum ersten Mal Elektronische Musik hört – «Lustig», findet sie lachend. Sie bleibe jedoch lieber beim Tango. Im Gegenzug gibt sie immer wieder mal eine Anekdote „von früher“ zum Besten. Mit Mails und Internet & Co. hat Norma keine Probleme, da sie ja auch ganz schön viel Zeit vor diesem Apparat sitze. Schade findet sie, dass es auf Netflix nicht so viele deutsche Filme gibt.
Dass sie nicht neugierig und offen für Neues sei, kann man Norma nun wirklich nicht vorwerfen. Laut Soziologen, eine der besten Voraussetzungen für gutes Altern. Genauso wie eine wirtschaftliche Absicherung, ein stabiles Sozialleben und moderate Aktivitäten.
Auf die Frage hin, wie sie sich im Kurs fühle, wird Norma ernst. «Manchmal fühle ich mich etwas schuldig, weil ich lieber mit Jungen als mit Alten zusammen bin. Und dabei bin ich ja auch eine Alte, verflucht noch mal…» Aber sie arbeite eben lieber mit Jungen zusammen. Da fühle sie sich super. Wenn sie dann im Himmel sei, meint sie und zeigt mit dem Finger nach oben, dann würde man eben mit ihr abrechnen.
Als ich sie auf ihren deutschen Nachnamen anspreche, erzählt sie mir ein ganzes Stück Familiengeschichte. Die Familie ihres Vaters stamme aus dem Tirol. Dort heisst es, seien sie in einer ganz guten ökonomischen Position gewesen. «Mein Grossvater verliebte sich jedoch in eine Hausangestellte und da dies zu jener Zeit von der Familie nicht akzeptiert wurde, flohen sie über die Alpen nach Genua. Von dort aus nahmen sie ein Schiff nach Brasilien, wo sie während mehrerer Jahre im Kaffeeanbau tätig waren. Ein paar meiner Tanten und Onkel kamen dort auf die Welt. Eines Tages kehrten sie jedoch, nachdem sie etwas Geld gemacht hatten, nach Italien zurück. Mein Vater wuchs in der Region um Vicenza auf und machte dort auch den Militärdienst. Als er um die Dreissig war, kam er nach Argentinien. Hier lernte er meine Mutter kennen, die Tochter von italienischen Einwanderern war – eine Bianchini. In Buenos Aires führten sie eine Metzgerei.»
Eine Migrationsgeschichte, wie es sie in vielen Familien Argentiniens anzutreffen gibt. Zwischen 1850 und 1950 schifften sich tausende und abertausende Europäer im Hafen von Genua ein. Vor allem Italiener aber auch Spanier, Franzosen, Deutsche und Schweizer kamen, so wie Normas Vorfahren, mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft in das südamerikanische Land. Wenn man die Namenslisten in den Sprachkursen durchgeht, wird man sich dieses riesigen Migrationflusses bewusst. Viele meiner Schüler und Schülerinnen lernen beispielsweise Deutsch oder Italienisch, um ihre Wurzeln besser kennen zu lernen, um einen Kontakt zu Verwandten in Europa wieder herzustellen und etwas über ihre Familiengeschichte zu erfahren. Auch Norma meint: «Weißt du, ich möchte etwas besser Deutsch lernen, um wenn ich nach Europa reise, etwas verstehen zu können. Es gibt ein Dorf im Tirol, da sollen ganz viele Loss leben und ich möchte mit meinen entfernten Verwandten sprechen können.»
Als ich sie um ein paar Worte bitte, die andere ältere Leute dazu ermutigen sollen, eine Sprache zu lernen, meint sie: «Einen Tipp für die Alten? Es ist absolut notwendig, je älter wir werden den Intellekt zu trainieren auch wenn wir unseren Körper nicht mehr so gut bewegen können. Denn was gibt es besseres, als mit einem klaren Verstand zu sterben? Ist das genug? Sonst kann ich noch lange weiter sprechen», lacht sie. Doch es ist schon spät – in 20 Minuten beginnt der Deutschkurs. «Moment, lass es mich auf Deutsch sagen!» Konzentriert schaut Norma auf ihre Uhr und formuliert jedes Wort langsam auf Deutsch: «Es ist 20 vor 6.» Als wir gemeinsam die drei Stöcke in Richtung Klassenzimmer hinaufsteigen und sie sich nicht ein bisschen darüber beklagt, dass es keinen Lift im Gebäude gibt, denke ich mir, dass wir alle noch viel von und mit Norma lernen können.
Um ganz ehrlich zu sein hatte ich mich bis ich in einen 8. Stock gezogen bin nie mit Fledermäusen auseinandergesetzt. Nie wurde das Thema von irgend jemandem in unserem Freundes- und Familienkreis angesprochen, beinahe als wäre es ein Tabu. Doch als wir es aussprechen: „Wir haben Fledermäuse!“, kennt plötzlich jeder jemanden der Fledermäuse hat oder hatte. Jeder gibt seine Tipps zum Besten… Und es scheint allen ganz klar zu sein: Ab dem 5. Stock muss man sich mit Fledermäusen wohl oder übel auseinandersetzen. Ok. Schön. Wir setzten uns damit auseinander.
Um genau zu sein ab dem Tag, an dem wir zum ersten mal auf unserem französischen Balkon (Das ist ein Fenster, das bis zum Boden reicht mit einem Gitter davor – aber französischer Balkon klingt besser) Kot sehen. Ich hatte Meerschweinchen als Kind und weiss: Dieser Kot kann nicht von einem Vogel sein. Und schon höre ich auch in der ersten schlaflosen Nacht die ersten Geräusche… Eine Art Gequietsche… Und dann ein Rummkrabbeln… Und am nächsten Morgen haben wir unser erstes Tête à tête mit Battie… Und der Kampf beginnt.
Ein Kampf der uns über Wikipedia, zu Naphtalin, und von Naphtalin zum Hauswart führt, und vom Hauswart zum Hausbesitzer und vom Hausbesitzer zu noch mehr Naphtalin… Bis wir über einen Zwischenstopp bei einer Tierschutzaktivistin und Hippienachbarin (die uns vorwurfsvoll anschaut, aber selbst bestimmt nicht mit diesen netten Tierchen zusammen leben muss), schliesslich zu ihnen gelangen: Den Fledermausterminators.
An einem schönen Morgen stehen sie vor unserer Tür: ohne Werkzeug. Eben nur, um mal die Lage abzuchecken. Als sie mit prüfenden Blicken an die Wand über unserem französischen Balkon klopfen, stellen sie mit ernster Miene fest: Ja, es hat Fledermäuse. Sie fragen mich, ob ich Zeit habe, was ich angesichts der Dringlichkeit der Situation natürlich bejahe und verschwinden dann so plötzlich, wie sie auch aufgetaucht waren… Um Werkzeug zu holen. Als sie nach ihrer gemütlichen Mittagspause wieder zurückkommen haben sie Schutzmasken und einen Spray dabei und sprayen um ihr Leben. Ich verbringe den Rest des Nachmittags auf dem Flur und kann mich nicht entscheiden was schlimmer ist, der Gestank des Fledermauskots oder derjenige des Sprays.
Als sie mit dem Spray nicht weiterkommen, kommt der Besenstiel (mein Besenstiel!) zum Einsatz… Und als auch dieser nicht weiterhilft, versuchen sie die drei Fledermäuse die nicht raus wollen mit den Waffen einer Frau zu schlagen und fragen mich: „Hast du einen Spiegel?“ Ich opfere meinen kleinen Make-up-Spiegel für die Sache; aber es ist zwecklos. Wir müssen bei den drei tapferen Überlebenden eine andere Taktik anwenden: Die Belagerung.
Die Belagerung, laut Wikipedia: „Eine Sonderform des Angriffs […] um befestigte Anlagen zu erobern, deren Kampfkraft abzunutzen oder zumindest zeitweise zu neutralisieren. Hierbei wird der Ort von eigenen Truppen umschlossen, dass möglichst jeder Verkehr zwischen dem Inneren und dem Äußeren des Belagerungsrings unterbunden wird. Insbesondere soll der Nachschub an Soldaten, Waffen und Nahrung unterbunden werden.“
Oder in anderen Worten: Wir schotten Battie & Co. ab und warten bis sie verhungern. Ende der Geschichte.
Anhang I: Als mein Mann am Abend nach Hause kommt, bittet Ihn die Hauswartin, die tote Fledermaus die auf dem Trottoir liegt, doch netterweise zu entsorgen.
Anhang II: Ich bin in der Belagerungswoche hin und her gerissen, werde von Gewissensbissen geplagt und träume nachts von der Tierschutzaktivistin. Aber immer wenn mich tagsüber eine Geruchswelle an Familie-Battie erinnert sage ich mir: Nein, wir bezahlen hier die Miete. Sorry. Wir haben euch so viele Chancen gegeben. Und dann gleich darauf wieder: Ich komme im nächsten Leben sicher als Fledermaus zur Welt…
Weihnachten mit 30 Grad? Das habe ich noch nicht geschafft und ich weiss nicht, ob ich es je schaffen werde. Aus diesem Gefühl heraus versuchte ich diese Weihnacht in der Kälte ganz besonders und bewusst zu geniessen, sie aufzusaugen mit allen Sinnen und… sie mitzunehmen! Von meinen 23 erlaubten Kilos Reisegepäck bestehen bei meiner Rückreise nach Buenos Aires mindestens 15kg aus Weihnachtsgeschenken, Schokolade, Pralinen, Weihnachtskeksen, natürlich in schönen Weihnachtsbüchsen, Weihnachtsdekoration in Form von Bändern und Sternen, Glitzer, Geschenkpapier, Kerzen und Kärtchen. Und dennoch ist mir vollkommen klar, dass es gerade die Dinge sind, die ich nicht im Koffer mitnehmen kann, die mir fehlen werden. Das Kuschelige an Weihnachten. Das Gefühl, wenn man nach Hause in die warme Stube kommt und es draussen kalt und dunkel ist… Der Geruch nach Zimt und Tannenzweigen und das ganze Drum und Dran. Das Weihnachten eben, das eigentlich bereits dann anfängt, wenn die Geschäfte ihre Schaufenster weihnachtlich schmücken, sie beginnen Weihnachtsmusik laufen zu lassen und im Tram die Durchsage der Kantonspolizei vor Taschendieben warnt – also etwa in der 2. Novemberwoche sobald die Herbstmesse in Basel vorüber ist.
Die Tage werden kürzer, es wird kälter – oder auch nicht, es bleibt so grau und nass, wie es bereits im Oktober war und die Nicht-Weihnachtshasser beginnen ihr Zuhause zu schmücken. Die einen kitschiger als die anderen, ist man sich in der Schweiz insgesamt doch einig, dass eine geschmacksvolle Weihnachtsdekoration nicht aus mehrfarbigen, blinkenden Lichtern und Plastikbäumen besteht. Es werden eifrig die verschiedensten Adventskalender, Adventskränze und Weihnachtskärtchen gebastelt, gekauft oder verschenkt und Weihnachtsgutzis gebacken. In den Schulen werden Weihnachtslieder und Verse für den Santiglaus eingeübt und es wird wie wild gewichtelt. An jedem der 4 Sonntage vor Weihnachten zündet man eine Kerze des Adventskranzes an. Als wir Kinder waren, kam am 6. Dezember nicht einer der Gläuse, die in den Geschäften Mandarinen verteilten oder auf der Harley Davidson vorbeisausten zu uns nach Hause. Nein, zu uns kam natürlich der richtige Santiglaus, derjenige der aus dem Schwarzwald mit seinem Gehilfen Schmutzli und einem Esel unterwegs war. In seinem dicken Buch stand alles über uns Kinder und wir hatten etwas Angst, weil wir wussten er würde uns mitnehmen, falls wir nicht brav waren. Meistens klingelte er an der Tür und wenn wir aufmachten lag ein Säckchen mit Erdnüssen, Mandarinen, Schokolade und einem Granatapfel für uns da. Je näher der 24. Dezember rückt, desto eifriger wird in den Zeitungen und der Tagesschau gemutmasst, ob es nun dieses Jahr eine weisse Weihnacht gibt oder doch wieder nicht, wie dies in 90% meines nun bald 30 jährigen Daseins der Fall war.
Und nun? Das nächste Weihnachten vielleicht mit 30 oder 40 Grad? Möglicherweise ohne echten Tannenbaum und echte Kerzen? 15kg Weihnachten reichen eben einfach nicht aus. In keinen Koffer der Welt passen Tannenbaum, Kerzen, der Wunsch nach Schnee, meine beiden „echten“ Santigläuse, Familie, Freunde, Gerüche, Lichter, Stimmungen, Musik, Erinnerungen und Geschichten – und trotzdem: Ich versuche so viel wie nur möglich davon mitzunehmen. Und jetzt bin ich wieder hier, in Buenos Aires. Der Schock war nicht so gross wie erwartet. Ich bin von -10 Grad Celsius auf ca. 25 Grad gestossen – es war ein „kühler“ Tag, der letzte des 2014 in Argentinien. Vier Stunden später als in meiner Heimat sind wir mit Sekt, viel Fleisch, schweizer Weihnachtsgutzis, Linsen, roten Unterhosen (auch ein paar italienische Traditionen musste ich natürlich mitnehmen!) und Umarmungen ins 2015 gerutscht und wünschen allen: ¡Feliz año nuevo!
Um es gleich vorweg zu nehmen: Nein, es gibt keinen Zusammenhang zwischen den Bildern und dem Inhalt dieses Beitrags… Aber es ist Frühling und die Stadt erstrahlt in einem lanvendelfarbenen Kleid… Die Jacarandas blühen!
Wenn ich Freunden und Bekannten hier erzähle, dass ich mitten im Zentrum von Buenos Aires wohne meinen die meisten, es sei super so in der Nähe von allem zu sein, von Geschäften und Leuten, v.a. wenn ich allein unterwegs sei… und sobald die Worte „allein unterwegs“ ausgesprochen sind, heisst es im nächsten Atemzug: „Versuche dich einfach nicht sofort als „nicht von hier“ zu entlarven…“ Und es folgen gleich Tipps, wie ich als Ausländerin in Buenos Aires am besten incognito bleiben kann.
Die Tipps reichen von „Versuche mit einem bestimmten Schritt zu gehen, halte nicht zu oft an und glotze nicht in der Weltgeschichte umher!“, über „Nimm am besten keine Handtasche mit!“, „Kleide und schminke dich nicht zu auffällig!“, bis hin zu „Sprich nicht zu viel!“ (Stadtplan, Kamera und echter Schmuck sind ohnehin tabu) Am Schluss folgt meist die beruhigende Bemerkung: „Aber ganz ruhig, mach dir keinen Kopf… Pass einfach auf!“ Mach dir keinen Kopf? Ganz ruhig? Pass einfach auf? Soll das ein Witz sein? Wenn ich nicht sofort als Ausländerin auffallen will muss ich mir bei jeder Bewegung, jedem Wort, jedem Atemzug einen Kopf machen. Und dabei auch noch relaxt und ruhig aussehen? Und überhaupt, weshalb sollte ich incognito bleiben wollen? Ich bin stolze Doppelbürgerin und es kann ja auch mal toll sein, der Exot zu sein (obwohl sich ‘exotisch’ und ‘Schweiz’ per Definition eigentlich gegenseitig ausschliessen).
Die Gründe weshalb ich incognito bleiben sollte lassen sich ganz einfach auf 3 herunterbrechen:
1. Drücken wir es mal ganz unmissverständlich und klar aus: Man wird nicht verarscht. (Wenn man beispielsweise einen Tangokurs machen will… Woher bist du denn? Schweiz? Aha. 60 Euro die Stunde. Argentinien? 150 Pesos, also keine 15 Franken.)
2. Man wird nicht beklaut. (Man wird trotzdem beklaut!)
3. Alle hier raten es einem. (Dann muss wohl irgendetwas dran sein, oder?)
Wie bei einer Trennung gehe ich teilweise in unterschiedlicher Reihenfolge und sogar mehrmals am Tag die 4 Phasen vom Nicht-wahrhaben-wollen, über die Trauer, zur Wut bis hin zur Akzeptanz durch. Es gibt Tage an denen ich mit der Tasche und der Kamera hinausgehe (Jedoch nicht mit beidem am selben Tag. Und wenn ich die Tasche dabei habe, dann ist sie selbstverständlich fast leer und natürlich ist kein Portemonnaie darin). Oder ich ziehe trotzig meine knallblaue Mammutjacke an (Ja, es ist eine Schweizermarke und ja man sieht, dass es eine gute und teure Jacke ist, aber es regnet und ich will nun mal nicht nass werden!)… Ich korrigiere: Es gab Tage, zwei um genau zu sein, an denen ich meine knallblaue Mammutjacke angezogen habe… und wenn sie jetzt der Typ trägt dem ich sie gegeben habe, als er mich mit seinem Kumpel auf dem Motorrad sitzend darum bat, sieht er nur wegen der Jacke auch nicht wie ein Ausländer aus… An anderen Tagen hingegen gebe ich mir alle Mühe auf der Strasse gestresst auszusehen, als ob ich zur Arbeit gehen würde und ich schaue auf meine Armbanduhr und vergesse dabei, dass ich gar keine anhabe. Wenn ich etwas fragen muss, dann nur in kurzen Sätzen, so kann ich den argentinischen Akzent problemlos nachahmen: Hola, tomates? (= Hallo, hast du Tomaten? Wo sind sie? Ich sehe sie nicht.) Wichtig dabei ist die Mimik und der fragende Blick UND auszusehen als ob man keine Zeit hätte, um in ganzen Sätzen zu sprechen. Ausserdem lege ich auf das überfreundliche „Gracias“ mitsamt dem strahlenden Lächeln danach wert, da ich es nicht übers Herz bringe als unfreundliche, unerzogene Person dazustehen.
Manchmal kann aber auch ein einziges Wort ausreichen, um entlarvt zu werden. Letztens fragte mich jemand im Supermarkt, wo die Warteschlange beginnt und ich antwortete mit meinem universitären madrider Spanisch: „Allá.“ „Dort.“ Und zuckte noch im selben Moment als es über meine Lippen war zusammen, weil ich wusste dass es um mich geschehen war.
So wie es mit der Sprache geschehen kann, geht es auch mit anderen kleinen Dingen im Alltag. Als ich endlich mein eigenes Subtekärtchen gemacht hatte und zum ersten Mal allein in die Metro ging, fühlte ich mich super incognito. Ich ging mit selbstbewusstem, raschem Schritt auf das Drehkreuz zu. Als mich dieses jedoch nicht durchlassen wollte, höre ich jemanden quer durch die Metro schreien: „Du musst das Kärtchen oben hinhalteeeeen!!!“ Auch geschieht es immer wieder Mal, dass ich wenn ich jemanden begrüsse ertappt werde, wie ich auf den 2. und 3. Kuss auf die Wange warte und man mich mit einem „Was-ist-denn-mit-der-los-Blick“ anschaut.
Sobald ich schliesslich irgend etwas Bürokratisches erledigen muss, ist es ohnehin zwecklos. Ich warte dann bis zum letzten Moment um ihn hervorzuholen, meinen schönen leuchtend roten Pass. Doch sobald ich an der Reihe bin, weiss auch der Letzte in der Warteschlange, dass ich nicht von hier bin…
Ich habe in den letzten zwei Jahren nun mehrere Reisen nach Buenos Aires unternommen. Ich kenne mich einigermassen im Zentrum aus, weiss wo ich mich besser nicht aufhalten soll und Spanisch spreche ich auch fliessend… Und doch… Plötzlich packt mich in den ersten Tagen an denen ich nun hier wohne dieses Gefühl, das mich an mein aller erstes Mal in der Stadt (und als alleinreisende Rucksacktouristin) erinnert.
Ich fühle mich wie an jenem Wintermorgen, als ich mutterseelenallein mit meinem grossen Rucksack und meiner Mammutjacke angekommen bin, am Flughafen die ersten Pesos gewechselt habe (Wie konnte ich nur?!!) und 250 Pesos für ein Taxi bezahlt habe (Wie konnte ich nur?!!), das mich in der hora pico, der Stosszeit (Wie konnte ich nur?) in meinem Hostel ablud… (http://www.americahostel.com.ar/) Ich wäre damals am liebsten in meinen Schlafsack gekrochen, um 2 Monate später wieder aufzuwachen und nach Hause zu fliegen… Ich fühle mich wie an jenem verregneten, grauen Wintermorgen, an dem ich all meinen Freunden und Verwandten SOS Nachrichten schickte… bis der Morgen schliesslich zum Nachmittag wurde und mich nur mein knurrender Magen vom 2-Monate-lang-durchschlafen-Plan abhielt. Ich erinnere mich daran zurück, wie ich mit meiner knallblauen Mammutjacke, in der linken Jackentasche den Stadtplan, in der rechten meine Kamera umklammerte und erstmals durch die Strassen von Buenos Aires raste. Nach ein paar Metern ein kurzer Stopp… links und rechts schauen… kurz den Stadtplan hervornehmen… Aha, ok weiter… schnell, schnell immer weiter… Ja nicht stehen bleiben… Sonst merkt man, dass ich Touristin bin… links und rechts schauen… schnell Kamera hervornehmen… knipsen… und schnell, schnell weiter…
Ok, nein, gaaaanz so schlimm ist es auch wieder nicht… Das war jetzt ein bisschen übertrieben. Es ist Frühling, also lasse ich die Mammutjacke mitsamt dem Stadtplan und der Kamera zuhause wenn ich alleine unterwegs bin… aber schnell, schnell weiter, ja nicht stehen bleiben…
Nach einem langen Flug fühlt sich die Warteschlange bei der argentinischen Migration meist irgendwie noch länger als der Flug selbst an… Von Hitzewallungen und dem Gedanken an den Koffer begleitet, (im Falle eines Flugs über London Heathrow eines INNIGEN Gedanken, der eher einem Flehen gleicht… Bitte, Bitte Koffer sei da wo auch ich bin und das ist Buenos Aires und nicht London oder Rio de Janeiro!!!) kommt man Schritt für Schritt (wortwörtlich) den hinter dem Glas finster wirkenden Beamten näher… Nachdem sie mit ernster Miene den Pass überprüft, sowie Fingerabdruck und Adresse verlangt haben, heissen sie dich dann mit einem überraschend freundlichen „Bienvenida, Alessia!“ willkommen und es wird einem warm ums Herz… Wenn du bei der Passkontrolle mit deinem Vornamen verabschiedet wirst… und einige dir sagen „Pasala bien!“, „Machs gut!“, dann weißt du, dass du in Argentinien angekommen bist. Einmal sagte mir eine ältere Dame nachdem sie mir den Fingerabdruck genommen hatte: „Ich würde alles geben, um nur eines deiner Augen zu haben…“ (Zum argentinischen Charme und Redewendungen in einem anderen Beitrag!)
Nachdem ich in Besitz meines Koffers bin (Puh, nochmals Glück gehabt!) und den Zoll hinter mir habe, bin ich nach durchschnittlich einer Stunde endlich frei! Ich setzte mich auf eine Bank und warte auf meinen Freund. An dieser Stelle sollte ich, um auch in Zukunft noch abgeholt zu werden anmerken, dass die Tatsache, dass ich auf ihn warten musste eine arbeitsbedingte Ausnahme war, die zwischen ihm und mir abgemacht, bzw. abgesprochen war. (Gut so mein Schatz?)
Kurz danach setzt sich mir ein junger Mann in einem (Wie soll ich das nur politisch korrekt und möglichst sachlich ausdrücken?) sehr heruntergekommenem, ungepflegtem, unansprechlichem, ungestyltem, bzw. andersgestyltem, ungekämmtem und unparfümiertem Zustand gegenüber und fängt nachdem ich ihm versichert habe, dass ich keinen Pesos habe und dies auch der Wahrheit entspricht, mit mir an über seine Liebe zu sprechen… „Boluda, (= Person mit übergrossen Hoden) (Zu den argentinischen Kraftausdrücken mehr in einem anderen Bericht!) ich habe es ihr (seiner grossen Liebe) durch den Wind gesagt, boluda… aber ich weiss nicht, ob sie es verstanden hat… Ich habe ihr durch den Wind gesagt, sie soll nach Buenos Aires kommen… Ich bin da für sie, weißt du, boluda… Nur weiss ich jetzt nicht an welchem Flughafen sie ankommt, aber ich warte jetzt mal auf sie…“ Nachdem er mir, die ich ach so grosse Hoden habe, seine Lebensgeschichte erzählt hat und ich immer wieder versucht habe ganz sachlich mit ihm zu sprechen: „Weißt du, wenn sie aus Europa kommt, dann müsste sie eigentlich auf dem Internationalen Flughafen Ezeiza landen… also kommt der Aeroparque gar nicht in Frage…“, kommt endlich mein Freund. Als ich ihn umarme bin ich dankbar, dass wir über Skype so gut kommunizieren können und dass ich ihm per SMS unmissverständlich mitteilen kann, dass ich in Buenos Aires, der Stadt der guten Lüfte angekommen bin und nicht auf den Wind zurückgreifen muss…
„Una sueca en Buenos Aires“ bedeutet übersetzt „Eine Schwedin in Buenos Aires“. Nein, ich bin keine Schwedin und niemand, der schon mal in Schweden gewesen ist, käme je auf die Idee, ich könnte Schwedin sein. Aber ich bin immerhin in Buenos Aires. Und immer wenn mich jemand hier nach meinem 3. Satz (hmm… seltsamer Akzent… nicht wirklich einzuordnen…) „Woher bist du?“ fragt, und ich antworte: „Ich bin Schweizerin.“, heisst es: Ah… miraaa… Schau an… du sprichst aber gut Spanisch. Und welche Sprache spricht man denn in Schweden? Am Anfang versuchte ich es noch mit: „Ich bin Italienerin und Schweizerin“ aber dann wurde ich nur schräg angeschaut. Einige (wenige), die ein bisschen was über die Schweiz wissen, meinen dann mit einem „Ach-bin-ich-toll-und-klug-Blick“: „AAhhh… aus der italienischen Schweiz.“ Nochmals andere meinen nach meinem Standardsätzchen „Ich bin Schweizerin.“: „Wusstest du, dass es in Bariloche deutsche Kolonien gibt?“ Ok… jaaa das wusste ich… Und?? Schweizer sind keine Deutschen. Das darf man keinem Schweizer sagen und die Schweiz keine deutsche Kolonie oder so… Oder was genau soll bitte die Verbindung zwischen „Ich bin Schweizerin“ und „in Bariloche gibt es deutsche Kolonien sein“? Und ja, in der Schweiz kann man zwei Nationalitäten haben… Es kommt einfach darauf an, welche Nationalität deine Eltern haben. Ich bin wirklich beides, Schweizerin und Italienerin… „Soll ich dir meine beiden Pässe zeigen?“ Und „Schweden“ überhöre ich inzwischen einfach höflich und erkläre dann, dass wir in der Schweiz vier offizielle Sprachen haben und dass man in der Deutschschweiz, woher ich stamme, auf „Hochdeutsch“ schreibt und es in der Schule spricht aber dass man sonst im Alltag Schweizerdeutsch spricht, einen Dialekt. A mira, sieh an… heisst es dann… mit einem skeptischen Ausdruck der sagt „Schräg diese Schweden…“